Hauptbild
»Westbam meets Wagner« Foto: Erika Mayer
»Westbam meets Wagner« Foto: Erika Mayer
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Andris Nelsons und das „Tannhäuser“-Prinzip: Konsequenz bei den Osterfestspielen Salzburg

Publikationsdatum
Body

Der Gewandhauskapellmeister bleibt sich treu und setzt auch in den Chor- und Orchesterkonzerten auf gründlich ausformulierte Partituren. Eine Bilanz der Salzburger Osterfestspiele 2023 von Michael Ernst.

Wagners „Tannhäuser“ ist nicht nur der Auftakt zu den diesjährigen Osterfestspielen Salzburg gewesen, sondern hat gleichsam den Takt für den gesamten Jahrgang angegeben. Somit hinterlässt das Leipziger Gewandhausorchester bei seiner einmaligen Residenz an der Salzach eine konsequente Handschrift. Fast möchte man vom Versmaß sprechen, denn unter der musikalischen Leitung von Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons werden sämtliche Partituren gründlich ausformuliert. Das hat natürlich seinen Preis, gemessen in Minuten. Und großen Wert, der sich überwiegend in eindrucksvollen Hörerlebnissen bemisst.

„Tannhäuser“ gab den Takt an

Der „Tannhäuser“ ist in dieser Lesart ein gesangliches Gesamtereignis geworden (nmz online 3.4.2023), in dem immer wieder geradezu liedhafte Höhepunkte zu verzeichnen gewesen sind. Insbesondere Christian Gerhaher als Wolfram von Eschenbach, aber auch Marlis Petersen (Elisabeth) und Emma Bell (Venus) sowie in der zweiten Aufführung mehr noch als zur Premiere Jonas Kaufmann als Tannhäuser haben dies beispielhaft auszukosten vermocht. Von Georg Zeppenfelds Landgraf zu schweigen, der als ebenso textverständlicher wie ausdrucksstarker Sachwalter von Lied- und Opernkultur ja sowieso immer wieder Maßstäbe zu setzen vermag.

Wagners Musiktheater war natürlich nicht zufällig vom Gewandhausorchester für Salzburg gewählt worden, denn erstens ist der Klangkörper in der Geburtsstadt des Dichter-Komponisten zu Hause, zweitens ist ausgerechnet der „Tannhäuser“ noch nie zu den Osterfestspielen aufgeführt worden, und drittens ist diese Musik geradezu prägend für dieses Orchester. Es hat aber auch darüber hinaus ein dramaturgisch klug gewähltes Programm geboten. In beiden großen Orchesterkonzerten gab es musikalische Bezüge zu Leipzig, ebenso im Chorkonzert mit dem Deutschen Requiem von Johannes Brahms. Schließlich konnte mit „Der Zorn Gottes“ von Sofia Gubaidulina endlich ein (verschobenes) Auftragswerk der Osterfestspiele realisiert werden, was umso sinnfälliger schien, als die tatarische Musikerin dem Gewandhaus aktuell als Orchesterkomponistin eng verbunden ist.

Ihr opulentes Zornesstück speist sich aus archaischer Religiosität, gepaart mit der Rage über den heutigen Zustand der Welt. In wuchtigen Sequenzen werfen sich darin Bläser und Schlagwerk tiefe Verzweiflungsorgien zu, variieren mit dissonantem Schrecken und schier apokalyptischen Ängsten.

Dieser Wucht ein Großwerk wie Anton Bruckners 7. Sinfonie folgen zu lassen, ist ebenso mutig wie schlüssig. 1884 in Leipzig uraufgeführt, hat es nichts von seiner Wirkmächtigkeit eingebüßt, ist bekenntnishaft geblieben und wurde so auch von Nelsons interpretiert. Klanginseln formte er fast andächtig zu einem unablässigen Strom, immer bis knapp vorm Zerreißen gedehnt; mal spröde, mal beinahe bombastisch, doch immer im botschaftlichen Dienst eines offenkundigen Sendungsdrangs.

Wenn im zweiten Orchesterkonzert dann mit Bach, Mendelssohn und Schumann aufgewartet wird, erschließen sich damit verbundene Bezüge zur Leipziger Musikgeschichte von ganz allein. Doch Nelsons und sein Orchester hatten wohl mehr vor, als nur an den einstigen Stellenwert der sächsischen Metropole im europäischen Musikleben zu erinnern. Interessanterweise gab es daher keinen Bach „pur“, sondern Mendelssohns 1866 geschaffene Fassung der Orchestersuite D-Dur (die mit dem berühmten Air). Romantische Rührseligkeit kam darin nicht vor, wohl aber die mit breitem Pinsel nachgezeichnete Pracht des Barock. Dass die bis ins Heute nachwirkt und immer noch wirkt, erschloss sich in „Les Chants de l’Aube“ für Violoncello und Orchester von Thierry Escaich.

Der 1965 geborene Franzose schrieb dieses Konzert als Auftrag des Gewandhausorchesters, das es kurz vor dieser Österreichischen Erstaufführung in Leipzig herausgebracht hat. Beim Cellisten Gautier Capucon lag der zwischen Sanglichkeit und schroffem Klang changierende Solopart in besten Händen.

Robert Schumanns C-Dur-Sinfonie wiederum, ebenfalls eine Leipziger Uraufführung (unter Mendelssohns Leitung 1846 im alten Gewandhaus), taucht durch Nelsons Interpretation einmal mehr in die Musikgeschichte ein. Wer ausreichend Geduld aufgebracht hat, diesem eher zögernden Entblättern Schumannscher Seelenwanderungen zu lauschen, durfte sich mit einem insgesamt organischen Resultat belohnt fühlen.

Und auch das Deutsche Requiem von Johannes Brahms war erstmals in Leipzig zu hören und wurde nun unter kundigster Mitwirkung des Bayerischen Rundfunkchors zu einem poetisch ausformulierten Stück Innerlichkeit. Großen Anteil daran haben Sopranistin Julia Kleiter sowie einmal mehr Bariton Christian Gerhaher gehabt.

Pretiosen der Kammermusik

Dass Leipzigs reiche Musikgeschichte natürlich nicht mit dem 19. Jahrhundert abgeschlossen worden ist, bewiesen auch die Kammerkonzerte des Residenzorchesters, in denen sowohl der gebürtige Leipziger Hanns Eisler mit seinem pfiffigen Opus 4, einem Divertimento für Bläserquintett, als auch der aus dem nahen Dessau stammende Kurt Weill die Eckpunkte setzten. Dessen 1930 in Leipzig uraufgeführte Brecht-Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ muss ein veritabler Skandal gewesen sein, vergleichbar allenfalls Strawinskys „Sacre“-Erfahrungen in Paris. Im Auftrag des Gewandhausorchesters schuf Christian Muthspiel nun einen launig gewitzten Mahagonny-Querschnitt für Bläserquintett, das von den Damen und Herren des Klangkörpers mit reichlich Spielfreude umgesetzt worden ist.

Für nochmal andere Kontraste sorgten Quintette von Mozart und Beethoven, die der Pianist Kirill Gerstein mit opulenter Fingerfertigkeit begleitet hat. Die zweite Kammermatinee, nun mit dem Gewandhaus-Quartett, lud ebenfalls zu einem Streifzug durch frühes Leipziger Musikleben ein, freilich wurden Beethovens (vermutlich in Leipzig uraufgeführtes) „Harfenquartett“ und Mendelssohns f-Moll-Quartett nun in einem frisch vitalen Zugriff präsentiert. Vom reinen Umfang her und sowieso vom künstlerischen Format und dessen höchst überzeugender Umsetzung wäre das anschließende Quintett für zwei Violinen, Viola und zwei Violoncelli D 956 von Franz Schubert durchaus einen eigenen Konzertpunkt wert gewesen. Ein ergriffenes Publikum zeigte auch hier, wie gut die Leipzig-Residenz in Salzburg angekommen ist.

In seinem ersten Jahr als alleiniger künstlerischer und geschäftsführender Intendant der Osterfestspiele hat Nikolaus Bachler neben dem – nun auf nur drei Jahre begrenzten – orchestralen Wechselmodell eine Reihe weiterer Novitäten herzeigen wollen. Einige sind rein finanzieller Natur gewesen: Drei Opernaufführungen sollten mehr Geld in die Kasse spülen als die herkömmlichen zwei, zusätzlich zu den bisherigen Freunden und Förderern wird es einen exklusiven „Osterkreis“ geben, vor allem aber wurde mit der Musikliebhaberin Aline Foriel-Destezet eine Mäzenin ins Boot geholt, ohne die wohl die Rückkehr der Berliner Philharmoniker ab 2026 nicht zu leisten gewesen wäre.

Tanz und Techno

Aber auch inhaltlich wollte Bachler Zeichen setzen und holte erstmals modernen Tanz und elektronischen Beat ins Festspielprogramm. Jeweils im Ambiente der Felsenreitschule wurde viel Wagner verfremdet. Erst die Uraufführung einer Tanzkreation nach dessen Wesendonck-Liedern durch die Emanuel Gat Dance Company, dann ein gemeinsam mit Leipzig gestemmtes DJ-Projekt namens „Westbam meets Wagner“. Für Salzburg dürften diese stilistischen Ausflüge Wagnisse gewesen sein, vom auffallend bunt gemischten Publikum wurden sie gefeiert. Mit erotischen Anspielungen und kräftezehrender Bewegtheit der Ensemblemitglieder sind das Liebessehnen und der damit verbundene -schmerz der (nur eingespielten) Wesendonck-Musik eher allegorisiert worden als dass ihnen etwas Unabdingbares hätte hinzugefügt werden können.

Anders das Herangehen des DJ Maximilian Lenz alias Westbam, der gemeinsam mit dem Dirigenten Oscar Jockel und der Mendelssohn-Orchesterakademie des Gewandhausorchesters einen wüsten Ritt durch Wagners Opernschaffen absolvierte. Frei nach „Erkennen Sie die Melodie?“ wurde Jockels speziell für diese Orchesterbesetzung arrangierte Wagner-Orgie von Beats und Bässen zerhackt und zugedröhnt. Nicht jedes Opernzitat – die Spannbreite reichte vom „Rheingold“ über „Holländer“ und „Tristan“ bis hin zu „Parsifal“ – konnte sich hörbar entfalten, die von leuchtendem Farbrausch begleitete Elektronik war einfach lauter.

Karajan-Preis nun dreigeteilt

Und noch ein Kritikpunkt zum Ende dieses insgesamt absolut erfolgreichen Jahrgangs: Etwas unwürdig, beinahe deplatziert, wirkte die diesjährige Verleihung des Herbert-von-Karajan-Preises. Nicht etwa, weil der Preis diesmal nicht in nur eine Hand ging (wobei das ja schon für’s Vorjahr nicht stimmt, als damit die Salzburg-Dekade der Sächsischen Staatskapelle Dresden gewürdigt worden war), sondern weil die nunmehr an drei Persönlichkeiten vergebene Ehrung als Appendix zur zweiten „Tannhäuser“-Aufführung erfolgt ist. Große Teile des Publikums strömten bereits aus dem Saal, als Festspielintendant Nikolaus Bachler gemeinsam mit Arabel Karajan auf der Vorbühne erschienen, um dem Sänger Alexander Köpeczi, dem Dirigenten Oscar Jockel sowie dem Tänzer Michael Loehr von der Emanuel Gat Dance Company die Urkunden zu überreichen.

Dabei hat gerade dramaturgisch ansonsten doch alles bestens gestimmt bei diesen mit betonter Konsequenz angegangenen Osterfestspielen 2023!

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!