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Opern-Kritik: Deutsche Oper am Rhein – Die tote Stadt

Selbstheilung in höchster Seelennot

(Düsseldorf, 16.4.2023) Regisseur Daniel Kramer hat Sigmund Freud genau gelesen und wendet die Erkenntnisse der Tiefenpsychologie in drastischen Bildern auf Korngolds einstigen Sensationserfolg an. GMD Axel Kober weiß genau, wo die Grenze zwischen Sentiment und bloßer Gefühligkeit verläuft.

vonMichael Kaminski,

Trauerarbeit ist eine der schwierigsten Disziplinen in Seelsorge und Psychologie. Im wahrsten Wortsinn untröstlich Hinterbliebene sinken ins seelisch Bodenlose. In Wahrheit ist ihnen auf Erden oft nicht zu helfen. Regisseur Daniel Kramer nimmt für seine Inszenierung von Korngolds einstigem Sensationserfolg „Die tote Stadt“ die genaue Lektüre des Komponisten von Freuds „Trauer und Melancholie“ zum Anlass für eine Lesart, die sich eng an die Erkenntnisse und Postulate der Tiefenpsychologie bindet. Wirklich liegen diese der Dramaturgie des Werks zugrunde. Der sich in Trauer um seine verstorbene Ehefrau verzehrende Paul erfährt eine „halluzinatorische Wunschpsychose“ im Freudschen Begriff. Wie sie der Witwer auslebt, zeigt Kramer in drastischen Bildern. Die Tänzerin Marietta, auf die er seine Sicht auf die Verstorbene projiziert, treibt ihr grausames Spiel mit dem Bild, das er sich von ihr macht. Angetan mit großer Robe choreografiert sie sich in einen Sarg hinein. Ihre Aufbahrung gerät zum Tingeltangel-Spektakel der Extraklasse samt Showgirls und schmachtend konzertierendem Pierrot.

Szenenbild aus „Die tote Stadt“ an der Deutschen Oper am Rhein
Szenenbild aus „Die tote Stadt“ an der Deutschen Oper am Rhein

Des Witwers Wahnsinn hat Methode

Scharfsinnig beobachtet Kramer, wie sich die Lockungen Mariettas und ihre Zurückweisungen exakt in den Halluzinationen des Witwers spiegeln. Sie gehorchen weniger Pauls vorgeblichen Wünschen als dem Umstand, dass noch in der wahnhaften Einbildung eine gewisse Rationalität herrscht. Zumal Marietta allenfalls in ihrer äußeren Erscheinung der Verblichenen ähnelt. Kramer unterstreicht so, welch‘ ausgeklügelte Methode der Wahnsinn hat. Unerwartet und dennoch konsequent führt die unbewusst-bewusste Selbstüberforderung in ihrer Gleichzeitigkeit von bohrendem Erinnern und der Inflation akuter sinnlicher Reize zur Genesung. In der Krise, medizinisch begriffen als Entscheidungspunkt, auf dem ein Patient versterben oder überleben wird, setzen sich des Witwers vitale Kräfte durch. Ihm ist auf Erden zu helfen. Freilich unternimmt Kramer bis dahin auch alles, um die Widersprüche, die am Witwer zehren, auf die Spitze zu treiben. Final findet Marie ihre letzte Ruhe, Paul hingegen macht sich in eine noch dunkle, aber nicht unbedingt finstere Zukunft auf.

Szenenbild aus „Die tote Stadt“ an der Deutschen Oper am Rhein
Szenenbild aus „Die tote Stadt“ an der Deutschen Oper am Rhein

Opulente Ausstattung

Bühnen- und Kostümbildnerin Marg Horwell situiert das Geschehen in einer Synthese aus großbürgerlichem Salon, Beerdigungsinstitut und Museum. Eine Liege deutet entsprechende Möbel in den hinteren der Herrichtung von Leichen vorbehaltenen Räumlichkeiten in Bestattungsinstituten an. Ein benachbartes Kabinett gleicht einer begehbaren Vitrine mit einer Sammlung der von der Verblichenen stammenden Reliquien und Devotionalien. Eine düster dräuende Monumentalfassade im toten Brügge gibt den Hintergrund des morbid-lasziven Varietéspektakels im Mittelakt ab. Horwell ersinnt dafür luxuriöse Garderobe, wie sie selbst auf den Bühnen luxuriöser Vergnügungstempel reüssieren dürfte.

Szenenbild aus „Die tote Stadt“ an der Deutschen Oper am Rhein
Szenenbild aus „Die tote Stadt“ an der Deutschen Oper am Rhein

Musikalisch aus einem Guss

Musikalisch bezwingt die Produktion. Mit den Düsseldorfer Symphonikern hält Axel Kober einen Fuß breit vor jener Grenze, die Sentiment von bloßer Gefühligkeit trennt. Wo immer möglich, setzen Kober und „sein“ Klangkörper auf forsche Tempi und vor allem rhythmische Prägnanz. Unerhört intensiv verkörpert Corby Welch den lange untröstlichen Witwer Paul. Welch gebietet über beides, die Attitüde des Schmerzensmanns und brünstige Gier. Jede Phrase ist sorgsamst erwogen. Der enormen Durchschlagskraft im Forte korrespondieren Piani, die nicht minder bis in des Hauses letzten Winkel dringen. Nadja Stefanoff hält für Marietta in der Höhe Fanfarentöne, in der Mittellage ihre reiche Palette sinnlicher Valeurs bereit. Emmett O‘Hanlon gibt einen überaus eleganten Frank. Anna Harvey ist eine berührende Brigitta. Auch alle weiteren Ensemblemitglieder nehmen für sich ein.

Szenenbild aus „Die tote Stadt“ an der Deutschen Oper am Rhein
Szenenbild aus „Die tote Stadt“ an der Deutschen Oper am Rhein

Digitales Opernglas

Die ersten sechs Vorstellungen des Werks ermöglichen Probanden, eine Augmented-Reality-Brille zu testen. Sie ist mit einem Smartphone verbunden, auf dem die zugehörige Software gespeichert ist. Träger der AR-Brille können sich wahlweise Hintergrundinformationen zu Werk und Akteuren der Produktion sowie Übertitel in Deutsch und Englisch zuspielen lassen, die Bühne heranzoomen oder einen Blick in den Orchestergraben werfen. Die Deutsche Oper am Rhein kooperiert für das Pilotprojekt mit einem Mobilfunkanbieter. Das Haus möchte damit einen niedrigschwelligen Zugang zum analogen Musiktheater in digitalen Zeiten anbieten. Angesichts von jungen Leuten, die gewohnt sind, sich aus einer Vielzahl von Quellen gleichzeitig zu informieren, zeigt sich hier ein Weg, unter digitalen Vorzeichen aufwachsende Menschen zu erreichen.

Deutsche Oper am Rhein
Korngold: Die tote Stadt

Axel Kober (Leitung), Daniel Kramer (Regie), Marg Horwell (Bühnenbild & Kostüme), Peter Mumford (Licht), Gerhard Michalski (Chor), Ricardo Navas Valbuena (Kinderchor), Anna Grundmeier (Dramaturgie), Corby Welch, Nadja Stefanoff, Mara Guseynova, Emmett O’Hanlon, Anna Harvey, Anna Sophia Theil, Alexandra Yangel, Stefan Cifolelli, Florian Simson, Chidozie Nzerem, Chor der Deutschen Oper am Rhein, Düsseldorfer Mädchen- und Jungenchor, Düsseldorfer Symphoniker

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