Münchens fast neues Festival „Ja, Mai“ für frühes und zeitgenössisches Musiktheater, von Serge Dorny und der Bayerischen Staatsoper 2022 ins Leben gerufen, dreht sich in diesem Jahr um wechselndes Erleben von Warten und Zeit. Von der Wiederkehr des schon aufgegebenen Lebenspartners ließ sich Penelope in Monteverdis Renaissance-Oper Ulisse nicht abbringen; an das Wunder einer Revitalisierung des Ehemanns glaubte die amerikanische Schriftstellerin Joan Didion ein ganzes Jahr, ordnete das logische Denken einem magischen Wunschglauben unter. Nachvollziehbare Lebenslinien einer abendländischen Kultur; würde ein alter japanischer Stoff, ursprünglich für das Nō-Theater geschrieben, eine unerwartet neue Sichtweise lehren?

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Hanjo
© Wilfried Hösl

Der japanische Komponist Toshio Hosokawa hat 2004 mit Hanjo eine Kammeroper komponiert, die das Warten einer jungen Frau auf das Wiedersehen einer flüchtigen, aber intensiven Bekanntschaft beschreibt, Machtverhalten und Liebesverhältnisse in einer Dreiecksbeziehung aufzeichnet. Seit seiner Uraufführung war Hanjo auf zahlreichen Bühnen zu sehen; in einer von Sidi Larbi Cherkaoui inszenierten Neuproduktion präsentiert die Staatsoper das Werk auf den Text des Autors Yukio Mishima von 1955, das Brücken zur japanischen Kultur schlägt, im monumentalen Haus der Kunst.

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Sarah Aristidou (Hanako) und Charlotte Hellekant (Jitsuko Honda)
© Wilfried Hösl

Die Geisha Hanako sitzt geduldig jeden Tag am Bahnhof, um Ausschau zu halten nach dem Geliebten Yoshio, der sie wegen seiner Arbeit verlassen musste. Er hatte seine Rückkehr versprochen, sie hatten Fächer als Erkennungszeichen getauscht, einen mit einer Schneeszene und einen mit nachtblühenden Winden. Sie gibt ihre Arbeit auf, ihr Leben besteht nur noch aus Warten. Von dem „schönen verrückten Mädchen“ auf der Bahnhofsbank berichtet sogar die Zeitung. Dort liest die Malerin Jitsuko von ihr; sie nimmt sie bei sich auf, eine neue, eigenartige Beziehung entsteht. Jitsuko schlägt vor, gemeinsam durch das Land zu reisen, um Yoshio zu finden.

Als dieser dann plötzlich vor der Tür steht, versucht Jitsuko, Hanako vor ihm zu verstecken. Beide müssen zugeben, Hanako zu lieben und nicht verlieren zu wollen. Hanako kommt hinzu, sie erkennt den Fächer, weist Yoshio trotzdem ab. Er habe zwar Ähnlichkeit mit dem Geliebten ihrer Erinnerung, sein Gesicht sei aber genauso „tot“ wie das der Männer, die am Bahnhof an ihr vorbeigingen. Sie werde nicht aufgeben zu warten.

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Charlotte Hellekant (Jitsuko Honda)
© Wilfried Hösl

Yukio Mishima hatte in dem Drama die Strenge des japanischen Nō-Theaters angelegt. Hosokawa war im japanischen Kulturkreis aufgewachsen, hatte dann in Berlin und Freiburg Komposition studiert bei Isang Yun und Klaus Huber. Die europäische Musik prägte ihn, hat aber auch im Weiteren seine Begeisterung für traditionelle japanische Musik entfacht. So findet sich in Hanjo eine sehr dichte, mit großer Ruhe fließende Musik, bis ins Reich der Träume führend, von durchsichtiger fragiler Schönheit, deren Glühen sich durch Einbeziehen von vielerlei Röhrenglocken und Schlagwerk in fernöstlichen Farben entwickelt, ohne dass ein volkstümlich japanisches Klischee entsteht.

Hosokawa hat sich um maximale Textdeutlichkeit bemüht, die in München bei der auf Englisch geschriebenen, sehr wortlastigen Fassung nur über den Umweg von Übertiteln einigermaßen verständlich wird. Man könnte sich in kleineren Theatern durchaus auch eindrückliche konzertante oder halbszenische Aufführungen vorstellen.

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Charlotte Hellekant (Jitsuko Honda) und Konstantin Krimmel (Yoshio)
© Wilfried Hösl

Im lang gezogenen großen Saal der Westgalerie stehen sich zwei Zuhörertribünen gegenüber; die üppige Spielfläche dazwischen hat der thailändische Aktionskünstler Rirkrit Tiravanija mit einem mobilen, von Plexiglas-Wänden umfassten Bühnenkasten gefüllt. Sessel, Staffelei und weißlicher Bonsai-Baum sind die karge Möblierung; einige aus Sporthallen bekannte Turnbänke werden ebenso als Ruhezonen einbezogen. Die acht geradezu artistischen Tänzer der Compagnie Eastman, die die drei Spielfiguren verdoppeln und in ihren Stimmungen ausdrücken sollen, drehen und bewegen zusätzlich laufend dieses Mobiliar, damit auf beiden Seiten der Halle für die Zuschauer Einsicht geschaffen wird. Dies schafft oft eine Unruhe, die von den Hauptrollen ablenkt, den Blick zwischen Orchester, Sängern, Texttiteln und gelegentlicher halbherziger Videoprojektion nervös herumschweifen lässt. Es kann in Momenten des Wartens, in szenischer Ruhe bei den orchestralen Zwischenspielen, auch die Fantasie anregen, das komplexe Gespinst der Beziehungen weiterzudenken, aus Höflichkeit Ungesagtes abzuwägen.

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Konstantin Krimmel (Yoshio)
© Wilfried Hösl

Die zunehmende Machtausübung Jitsukos über Hanako könnte vordergründig als Folge des gemeinsamen Haushalts gesehen werden. Cherkaouis Inszenierung deutet noch in eine andere Richtung, die auch Hanakos Zurückweisung von Yoshio besser verstehen lässt. Gleichgeschlechtliche Liebespaare konnten sich in den Fünfziger Jahren in Japan nicht offen zeigen. So würde das offensichtliche Warten zum schützenden Schleier für das Liebesglück der beiden Frauen werden.

Einmal mehr bewiesen das Münchener Kammerorchester und seine Orchestersolisten ihre hohe Kompetenz für zeitgenössische Musik, klangfarbenschillernd und mit rhythmischer Spannung, dieses Mal in der konzentrierten Leitung von Lothar Koenigs. Für die Vokalsolisten gab es überraschend elektronische Verstärkung. Sarah Aristodou beeindruckte mit in allen Lagen samtig ausgeglichener Stimmfülle, in dramatischem Drängen wie feinem Silberglitzern ihres Timbres. Sehr ausdrucksstark zog Charlotte Hellekant die Handlungsfäden des Spiels, begeisterte in der glasklaren Lineatur ihrer weiten Mezzolage. Sehnsucht und Kampfeswillen konnte Konstantin Krimmel authentisch ausstrahlen, klar phrasiert mit seinen prägnanten Bariton-Registern lyrisch wie leidenschaftlich auftrumpfen. Anrührende vokale wie instrumentale Kalligraphien!

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