„Siegfried“ in Dortmund :
Es rappelt im Fundus

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Typischer Geschmack von Neureichen: Den Waldvogel (Alina Wunderlin) hält Fafner (Denis Velev) im goldenen Käfig seiner Containerhöhle gefangen.
„Siegfried“ als Spieloper: Der Regisseur Peter Konwitschny und der Dirigent Gabriel Feltz machen im Dortmunder „Ring des Nibelungen“ vor, wie leitmotivische Präzisionsarbeit und Bühnensituationskomik zusammenwirken.

Die Hüllen werden fallen. Wer vor einem Jahr im Theater Dortmund die „Walküre“ gesehen hat, mit der Peter Kon­witsch­ny seinen „Ring des Nibelungen“ be­gann und jetzt nach der zweiten Pause des „Siegfried“ in den Saal zurückkehrt, wird von Rührung und Vorfreude ergriffen, weil er weiß, wie das wird. Die sechs Harfen sind auf die Plätze zu beiden Seiten des Proszeniums verbracht worden, wo sie am Ende des ersten Abends von Richard Wagners Bühnenfestspiel den Feuerzauber er­zeugten und verkörperten. Noch sind die filigranen goldenen Ungetüme in ihre schwarzen Säcke eingehüllt, die sie vor Staub schützen. #

Der Regisseur hätte auch anordnen können, die Harfen samt Harfenistinnen erst pünktlich zu ihrem Auftritt aus der Kulisse an den Bühnenrand zu schieben. Aber Kon­witsch­nys Theater ist eine Welt, in der die Mittel zur Produktion magischer Effekte bereitliegen und nicht versteckt werden müssen.

Wie der legendäre Stuttgarter „Ring“ vor einem Vierteljahrhundert vier verschiedenen Regisseuren anvertraut war, arbeitet Kon­witsch­ny, der in Stuttgart die „Götterdämmerung“ ablieferte, in Dortmund mit vier verschiedenen Ausstatterteams. Frank Philipp Schlößmann baute für die „Walküre“ drei Wohnküchen, eine größer und luxuriöser als die andere.

Als sich der Vorhang des zweiten Aufzugs öffnete, verstand man das Schema und freute sich auf den dritten. Auch Johannes Leiackers Bühnenbild für den „Siegfried“ verklammert die drei Aufzüge durch ein wiederkehrendes Element aus dem Theatermodellbaukasten. Es ist der Container, die Ur­kiste einer modularen Bauweise, die al­le Ornamentik einspart.

Der Hort ragt schon ins Bild

Mime, der Schmied, der seine handwerkliche Begabung verkommen und seinen Ziehsohn verwildern lässt, weil er besessen ist von der Idee, aus Altmetallresten eine Wunderwaffe zu basteln, haust in einem solchen Kasten, der mit einer Waldpanoramatapete ausgeschlagen ist. Rechts schiebt sich ein zweiter weißer Container mit weißer Tür ins Bild. Man ahnt: Das muss das Goldlager des Riesen Fafner sein, der einzige Ort auf der Welt, der den im instrumentellen Denken gefangenen Werkzeugmacher interessiert. Der Weg durch den Wald verlangt auf der Bühne keinen Raum.

Der Hort ein Container: Das passt. Zunächst einmal, weil Fafner und sein Bruder Fasolt (das Dortmunder „Rheingold“ steht in der nächsten Spielzeit an) im Baugewerbe groß geworden sind. Vor al­lem aber auch als Bild für Wagners Kapitalismuskritik, für die Phantasielosigkeit der totalen Sachherrschaft des abstrakten Ei­gentums. Das aus dem Verkehr gezogene Gold ist unsichtbar wie die Kunstsammlung eines Oligarchen im Schweizer Freilager, unnütz und unschön, ein durch hässliche Sicherheitsvorkehrungen geschützter bloßer Bilanzwert.

Der Container ist aber in Kon­witsch­nys Disposition mehr als ein Konzept, nicht bloß ein Raster, das in seiner interaktiven Variante des Regietheaters mit Assoziationen der Zuschauer gefüllt werden kann. Am Anfang des zweiten Aufzugs – die Szene hat sich nach rechts verschoben – entfaltet die weiße Blechwand als Hintergrund eine ungeheure dramatische Wirkung. Alberich treibt sich in der Umgebung von Fafners Höhle herum und hat nichts zu tun, als sich treiben zu lassen. Eine Fahndungsbildfolge aus Bewegungsstudien wird auf die Wand geworfen, ein zerstückelter Scherenschnitt: großes expressionistisches Kino, nur aus Licht und Schatten gemacht.

Auf der kahlen Baustelle im Urwald der Großstadt wird ein Meisterverbrecher gestellt. Er trägt einen Frack, als käme er von ei­nem Ball oder aus der Oper. Psychologische Glaubwürdigkeit ist beim Titelhelden der Tetralogie die falsche Kategorie. Alberichs Monomanie ist eine durch und durch theatralische Erfindung.

Alles glänzt, außer den Adiletten

Der zweite „Siegfried“-Aufzug leidet in vielen Inszenierungen an fehlgeleitetem Illusionismus. Wenn der Drache im Versteck endlich aufgestört wird, gerät das Spektakel meist kläglich. In Dortmund bietet das Innere von Fafners Container, als die Tür schließlich fällt, einen Anblick von monströser Vulgarität: Der Hausherr hat sich in seinem Gold buchstäblich eingerichtet. Er badet nur noch in goldenen Badewannen, das Ge­schirr ist ebenfalls aus Gold, und nur an seinen Füßen funkelt nichts, weil er keine Gamaschen mit Me­tall­knöpfen trägt wie ein Bankier, sondern Adiletten.

Aus dem witzigen Tableau holt Kon­witsch­ny nun ein Maximum an Komik heraus, indem er die Situation als Bühnensituation behandelt. Es zeigt sich, dass der Waldvogel, der Siegfried den Weg gewiesen hat, dem Privatier als Gespielin zu Diensten stand. Nach Fafners Exitus in der Wanne findet die stumme Dienerin ih­re Sprache, macht sich aber nicht aus dem Goldstaub, sondern nun erst recht nützlich. Während die Zwerge den Neidhöhlenboden zum Schlachtfeld ihres Bruderkriegs machen und der nach dem Er­lebnis des tödlichen Zustechens immer noch furchtlose Siegfried sich beschwert, weil er im Bildungsurlaub nicht auf seine Kosten gekommen ist, hüpft Alina Wunderlin im grünen Röckchen so behände, wie sie singt, zupft hier etwas zurecht, bringt da etwas in Ordnung und steckt dort etwas ein. Sie ist der gute Geist des Theaters.

„Siegfried“ als Spieloper: Dem Ansatz des Regisseurs entspricht die musikalische Arbeit. Die Textverständlichkeit des gesamten Ensembles ist rühmenswert. Mit dem Kopftuch im Stil von Da­vid Foster Wallace ist Daniel Frank so kostümiert, als wollte er durch die Eignungsprüfung für Heldentenöre fallen. Aber wenn man sich diese schwankende Gestalt nicht nur ansieht, sondern auch anhört, merkt man, dass er Saft und Kraft in den gesanglichen Fluss leitet.

Mi­me (Matthias Wohlbrecht) keift nicht, der Wanderer (Thomas Johannes Mayer) be­glaubigt mit Rosttönen die nur durch Altwerden und unbehelligtes Zuschauen erworbene säkulare Autorität, mit der sich der ruinierte Obergott Wotan schmückt wie ein Ehrenmitglied der Theatergemeinde.

Bis an die Grenze der Verformung

Das Quizduell zwischen Mime und dem Wanderer im ersten Aufzug ist ein retardierendes Moment. Welche dramatische Funktion haben die Fragen, wenn sie die Handlung nicht voranbringen? Generalmusikdirektor Ga­briel Feltz und die Dortmunder Philharmoniker ge­ben die Antwort durch plastische Gestaltung aller Einzelheiten, rhythmische Akzentuierung fast bis an die Grenze der Verformung ‒ was das Wiedererkennbare aushält. Leitmotive sind vertraute, unverwüstliche Requisiten, mit denen man noch erstaunlich viel anfangen kann.

Mime hat sich nicht getäuscht: Aus den Teilen kann doch noch ein Ganzes geschmiedet werden.