Paris, Opéra Comique, BREAKING THE WAVES - Missy Mazzoli, IOCO Kritik, 31.05.2023

Paris, Opéra Comique, BREAKING THE WAVES - Missy Mazzoli, IOCO Kritik, 31.05.2023
l´Opéra Comique Paris © Sabine Hartl, Olaf-Daniel Meyer
l´Opéra Comique Paris © Sabine Hartl, Olaf-Daniel Meyer

l´Opéra Comique Paris

BREAKING THE WAVES (2016) - Missy Mazzoli

Oper in drei Akten, Libretto Royce Vavrek; nach dem gleichnamigen Film von Lars von Trier

von Peter Michael Peters

  • EINE DÜSTERE EROTISCHE ZERBROCHENHEIT…
  • His name is Jan.
  • I do not know him.
  • He’s from the rig.
  • You know we do not favor
  • Matrimony with outsiders.
  • Can you even tell us
  • What matrimony is?
  • It’s when two people
  • Are joined in God.
  • Do you really believe
  • You’re capable
  • Of bearing the responsibility
  • Not only for your
  • Own marriage in God.  (Auszug: 1. Akt / Szene der Bess)

Ist das wahre Liebe?

Breaking the Waves (1996) von Lars von Trier (*1956), ein düsteres und erotisches Monodrama, hat sich als Kino-Klassiker äußerst stark etabliert, unter anderem aufgrund der Interpretations-Freiheit, die der Film den Zuschauern bietet. Sind die Absichten der Charaktere rein oder böswillig?  Ist es aber auch wichtig?

Eine Opern-Adaption des Films von dem dänischen Regisseurs Von Trier setzt sich mit denselben Fragen auseinander, diesmal mit Musik! Die amerikanische Komponistin Missy Mazzoli (*1980) gesteht, dass sie zögerte die Herausforderung anzunehmen, als der amerikanische Librettist Royce Vavrek  (*1972) sie ihr anbot.

„Ich dachte mir, das ist so ein außergewöhnlicher Film, warum sollte man da Kompromisse eingehen?“ Sagte sie in einem Interview! „Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr konnte ich eine musikalische Welt hören, die dem Film eine neue emotionale Dimension verlieh!“

Breaking the Waves wurde im September 2016 im Philadelphia Opera House uraufgeführt, wo Mazzoli als Komponistin in Residence war, und dann wurde sie auch gleich einige Monate später mit großem Erfolg beim experimentellen Opernfestival in New York wiederaufgeführt. Inzwischen wurde das Werk auf mehreren Bühnen in neuen erfolgreichen Produktionen aufgeführt, darunter auch im Edinburgh International Festival.

Breaking the Waves - Ankündigung youtube Opéra Comique, Paris [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]

Was ist ein guter Mensch?

Breaking the Waves spielt in den nördlichen Highlands von Schottland und erzählt die Geschichte einer jungen Frau, Bess, die psychisch sehr anfällig und erotisch äußerst frustriert ist: Verheiratet mit Jan! Dieser arbeitet auf einer Petrol-Plattform. Nach einem Unfall, der ihn gelähmt und unfähig macht, Sex zu haben, ermutigt Jan seine Frau Bess, sich Liebhaber zu nehmen und mit anderen Männern zu schlafen. Was die junge Frau in immer gefährlichere Beziehungen drängt, gegen die wachsende Feindseligkeit der sehr christlichen und rigoristischen Bewohner dieser kleinen Stadt in Schottland.

Von Trier fragt, was es bedeutet, „ein guter Mensch in einer Gemeinschaft zu sein, in der jeder eine andere Vorstellung davon hat, was auch gut ist“, sagt Mazzoli. „Für eine Frau ist das ein sehr vertrautes Gefühl, denn das Verhalten bewegt sich auf einem sehr schmalen Pfad!“ Wahre Liebe? Seit des Erscheinens von Breaking the Waves vor zwanzig Jahren fragen sich die Zuschauer über Jans Absichten: Will er Bess‘ Wohlergehen, handelt er zu seinem eigenen Vergnügen? Oder um sie zu verletzen?

Der Filmkritiker Roger Ebert (1942-2013), für den Breaking the Waves einer der zehn Filme ist, die man in den 1990er Jahren gesehen haben musste, kam zu dem Schluss, dass Jans Absichten keine Rolle spielt, denn Bess beschließt sich seinem Willen zu unterwerfen. Mazzoli hingegen ist davon überzeugt, dass Jan aus wahrer Liebe handelt! Auch wenn ihre Oper die ursprüngliche Mehrdeutigkeit des Films bewahrt, hält sie diesen Schluss für wesentlich und eröffnet ihr Werk mit romantischen Melodien zwischen Bess, interpretiert von  der amerikanischen Sopranistin Sydney Mancasola und Jan gesungen von dem englischen Bariton Jarret Ott. „Ich habe versucht, die glücklichen Momente aus der Oper herauszuholen, weil es nur wenige gibt“, sagt sie lachend.

Opéra Comique, Paris / BREAKING THE WAVES hier Sydney Mancasola (Bess) und Jarrett Ott (Jan) © S. Brion
Opéra Comique, Paris / BREAKING THE WAVES hier Sydney Mancasola (Bess) und Jarrett Ott (Jan) © S. Brion

Zusammen mit dem Librettisten Vavrek reisten die beiden auf die schottische Insel Skye, um Akzente und Dialekte aufzuzeichnen und sich von der felsigen Landschaft inspirieren zu lassen, in denen steile Klippen direkt ins Meer abfallen und Wellen über hügelige Wiesen brechen, die von Schafherden durchquert werden. „Diese Gegenüberstellung war beeindruckend und inspirierend“, fährt Mazzoli fort. „Diese Landschaft kam mir sowohl klangvoll als auch sehr still vor.“ Sie fügte auch typische schottische Klänge hinzu, indem sie den Dudelsack nachahmte und auch Gesänge einfügte, die für die Musik schottischer Kirchen charakteristisch sind.

Musikalische Untertitelung

Der gegenüber Spezialeffekten und Filmmusik zurückhaltende Von Trier hatte in seinem Film bis auf kurze Passagen auf Musik verzichtet. „Die Idee ist nicht, einem zu sagen, wie man sich fühlen soll“, erklärt Mazzoli, sondern vielmehr „durch die Musik Untertitel zu schaffen, die die Psychologie der Charaktere beleuchten.“

Opéra Comique, Paris / BREAKING THE WAVES hier Jarrett Ott (Jan) und Wallis Giunta) © S. Brion
Opéra Comique, Paris / BREAKING THE WAVES hier Jarrett Ott (Jan) und Wallis (Giunta) © S. Brion

Von Trier gab grünes Licht für das Projekt, ohne mit ihm in Verbindung zu stehen und gab Mazzoli und Vavrek den nötigen Raum. Der Realisator, der für seine große Angst von Flugzeugen bekannt ist, wird die Oper nicht in den Vereinigten Staaten sehen, es seien aber viele Gespräche für andere internationale Produktionen im Gange, so Mazzoli. Während ihrer Arbeit gelang es den Autoren der Oper nie, sich auf die tieferen Beweggründe der Figur des Jan zu einigen.

„Es ist diese Möglichkeit, viele verschiedene Interpretationen zu haben, die diese Geschichte so stark macht“, sagt die junge Komponistin. „Ob es Ihnen gefällt oder nicht, jeder verlässt diese Oper und diesen Film mit der großen Frage.“ Wahr es wirklich Liebe?

BREAKING THE WAVES - französische Erstaufführung - 28. Mai 2023 - Opéra-Comique, Paris

Ein bewegender Mensch mit leuchtender Schönheit…

In einer streng calvinistischen Gemeinde im Norden von Schottlands verliebt sich die junge Bess, beseelt von einer mystischen Inbrunst, in einen Fremden, der auf einer Ölplattform arbeitet. Kurz nach ihrer Hochzeit überlebte Jan einen Unfall. Jetzt ist er gelähmt und drängt Bess dazu, bei anderen Männern Vergnügen zu finden…

Obwohl gerade die Plattform ständig die Wellen der Nordsee bricht, führt Bess‘ unerschütterlicher Glaube und ihre verzweifelte Liebe zu Jan dazu, dass sie sich gegen den Strom der religiösen Gemeinde-Moral selbst opfert.

Opéra Comique, Paris / BREAKING THE WAVES hier Sydney Mancasola (Bess), Jarrett Ott (Jan) und Ensemble © S. Brion
Opéra Comique, Paris / BREAKING THE WAVES hier Sydney Mancasola (Bess), Jarrett Ott (Jan) und Ensemble © S. Brion

Vielfacher Ehebruch im Namen der Liebe…

Eine Cover-Version eines Klassikers ist immer ein riskantes Geschäft, doch die Belohnung kann sehr groß sein, wenn die neue Version den Geist des Originals verkörpert und dennoch eine eigene Melodie singt. Breaking the Waves ist ein klassischer Arthouse-Film aus dem Jahr 1996, der von Von Trier geschrieben und realisiert wurde. Und der genau zwanzig Jahre später von Mazzoli und Vavrek in ihrer neuen Oper wiederbelebt wurde. In Amerika sehr gefeiert und in einer in Europa internationalen Koproduktion an der Scottish Opera mit dem Edinburgh International Festival mit viel Erfolg gezeigt, hatte jetzt die langerwartete französische Erstaufführung  an der Opéra Comique in Paris.

Dies ist die Geschichte von Bess McNeill, die nach dem Tod ihres Bruders emotional zerbrechlich ist und die auf Jan trifft, einem Arbeiter auf einer Ölplattform in der Nordsee und der für ihre orthodoxe Gemeinschaft ein völlig Fremder war. Trotz aller Bedenken heiraten sie, doch das Eheglück wird unterbrochen, als Jan seinen Freund Terry bei einem Bohrunfall rettet, dabei aber fast selbst ums Leben kommt. Bess führt Gespräche mit Gott, glaubt aber irgendwie, dass Jans Unfall ihre Schuld ist, da sie für seine schnelle Rückkehr gebetet hatte. Jan liegt gelähmt in einem Krankenhausbett, macht Bess jedoch den schockierenden Vorschlag sich andere Liebhaber zu suchen, was sie in den Mittelpunkt einer Glaubens- und Loyalitätskrise bringt. Der Rat kommt von ihrer Mutter, ihrer Schwägerin Dodo und Dr. Richardson, der sich um Jan kümmert und davon überzeugt ist, dass er nicht mehr laufen kann. Bess glaubt, dass Jan durch ihre Annahme von Liebhabern genesen kann, da auch ihr Ausschluss aus der Kirche nur noch zu extremeren katastrophalen Folgen führt.

Der englische Bühnenbildner Soutra Gilmour spielte mit einem genialen Trick der Symmetrie und verwendete dreizehn abgestufte Monolithen, die auf einer Drehscheibe platziert waren, dazu mit erstaunlichen Video-Design-Projektionen von dem englischen Video-Designer Will Duke und eine äußerst dramatische Beleuchtung von dem englischen Lichtbildner Richard Howell: Die uns in eine graue Insel-Himmel-Landschaft, einen hölzernen Kirchen-Innenraum und einer Bohrinsel mit roten Gitterträgern und der großen Driftbrücke, die sich jeweils verwandelten auch noch in weitere Standorte dazwischen. Die grenzenlosen Möglichkeiten des Bühnenbildes ermöglichten es insbesondere den vielen schnellen Szenen im 1. Akt unter der strengen Leitung des englischen Regisseurs Tom Morris nahtlos zu funktionieren.

Das Orchestre de Chambre de Paris meisterte Mazzolis leuchtende Partitur brillant und mit viel detailliertem Engagement, der französische Dirigent Mathieu Romano unterstützte seine Sänger äußerst gut. Musikalische Einflüsse waren sicherlich Benjamin Britten (1913-1976) und wir fühlten uns mehrmals an The Turn of the Screw (1954) Miasmen erinnert. Doch trotz allem ist Mazzolis Musik ganz und gar ihre eigene Schöpfung! Eine E-Gitarre, ein Klavier-Synthesizer und eine Melodica fügten seltsame Farben hinzu. Der Perkussionist des Orchesters war ein vielbeschäftigter Mann mit einer Auswahl von verschiedenen Instrumenten. Das Ensemble Aedes kann stolz auf den sehr fein gesungenen Chor von zwölf Männern sein, die die Produktion sehr prägen und viele Rollen zu spielen haben: Von strengen Kirchenältesten über Bohrarbeiter in roten Kesselanzügen bis hin zu einer bösen, gewalttätigen und sexuell abweichenden Schiffsbesatzung. Sie spielen auch eine wesentliche Rolle als die Stimme, die Bess in ihrem Kopf hört und die diese unangenehme und herausfordernde Geschichte vorantreiben.

Die englische Sopranistin Susan Bullock lieferte eine starke Leistung als konfliktreiche Mutter ab, die zwischen ihrem Glauben und ihrer eigensinnigen Tochter hin- und hergerissen ist, die sie wegen ihrer sexuellen Offenheit zurechtweist und schließlich im Stich lässt. Die kanadische Mezzo-Sopranistin Wallis Giunta brachte in die Rolle der Dodo McNeill die vielen Perspektiven einer Außenstehenden mit, einer Krankenschwester für Jan und einer sehr sympathischen Freundin und Beraterin für Bess. Ihre wunderschöne Mezzo-Stimme brachte sie gewissermaßen zu einem Teil auch zu einem Mittelpunkt des Dramas und dazu hatte sie auch eine große überzeugende Bühnenpräsenz. Die amerikanische Sopranistin Sydney Mancasola lieferte eine überragende Darbietung als Bess ab, kaum dass sie je die Bühne verließ und ihre körperliche Reise vom verletzten, gottesfürchtigen Mädchen durch eine Reihe immer gefährlicher werdender sexueller Begegnungen auf der Bühne war völlig in ihrem fehlgeleiteten religiösen Überzeugungen versunken. Das starke Frauen-Trio überschattete teilweise die tadellose Interpretation des englischen Bariton Jarret Ott als Jan und auch sein Freund Terry ausgezeichnet gesungen von dem französischen Bass-Bariton Mathieu Dubroca, während der englische Tenor Elgan Llyr Thomas einen äußerst leidenschaftlichen gesungenen Dr. Richardson bot und auch verzweifelt versuchte den Dingen um ihn herum einen wirklichen Sinn zu geben.

Opéra Comique, Paris / BREAKING THE WAVES hier das Ensemble zum Schlussapplaus © Peter Michael Peters
Opéra Comique, Paris / BREAKING THE WAVES hier das Ensemble zum Schlussapplaus © Peter Michael Peters

Wir haben den Film Breaking the Waves im Kino sehr geliebt, als er herauskam und auch waren natürlich froh, dass wir ihn kurz vor dieser Produktion noch einmal gesehen haben. Während Mazzolis Musik der klaustrophobischen Insel-Gemeinschaft und Bess hervorragend in den Sinn kommt, ist Vavreks Libretto weitgehend Von Trier treu geblieben.

Wir hatten das Gefühl, dass der Schwung nach einem dramatischen 1. Akt verloren ging und erst wieder an Fahrt gewann, als Bess zunehmend aus den Fugen geriet und ihr grausiges Schicksal sie ereilte. Sowohl der Film als auch die Oper erhören Bess‘ Gebet, dass der gelähmte Jan irgendwie wieder gehen konnte und beide lassen verschiedene Interpretations-Möglichkeiten zu. Hier steigert Mazzoli die Emotion, während Bess stirbt und schnell zum nächsten Ort übergeht!

Breaking the Waves ist eine mutige, aber sehr erschütternde Oper in einer sehr intelligenten Inszenierung, überaus fein gesungen und gespielt. Wie der Film verdient auch sie es, gesehen zu werden, da sie alle möglichen Fragen über die Manipulation schutzbedürftiger Menschen und die Reaktion von religiösen Gemeinschaften aufwirft. Die sich normalerweise um sie kümmern und auch anleiten sollten! Eine gelungene Cover-Version? Wir finden beide auf ihre Art ungemein kraftvoll!

Für uns war es wohl einwandfrei die interessanteste und emotionellste Produktion und auch Kreation der letzten Jahre. Außerdem einwandfrei die beste Aufführung in der Saison 2022/23 hier in Paris.

Co-Production: Opera Ventures, Scottish Opera, Houston Grand Opera und Opéra-Comique Paris und Co-Presented with the Edinburgh International Festival. With the collaboration du Bristol Old Vic…  (PMP/29.05.2023)