Salz, Sehnsucht und der Horror des Heiratens – „Der Fliegende Holländer“ an der Staatsoper Unter den Linden

Staatsoper Berlin/HOLLÄNDER/Vida Miknevičiūtė (Senta), Ensemble/Foto @ Jakob Tillmann

Tatsächlich eine Inszenierung des Theaters Basel, ist Philipp Stölzls Fliegender Holländer praktischerweise geeignet für Bühnen sämtlicher Dimensionen. Im unschuldigen Deckmantel der Mantel-und-Degen-Ästhetik nimmt sie bei leuchtenden Klängen immer mehr Fahrt auf, bis Enthüllungen und einfallsreiche Textumdeutungen den Abend wahrlich rasant werden lassen. (Rezension der Vorstellung vom 11. Juni 2023)

 

Neunzehntes Jahrhundert: in der Bibliothek einer alten Villa fläzt nachts bei Kerzenschein ein junges Mädchen (Komparsin Amelie Sturm) im weißen Schlafanzug auf einem Ohrensessel, die Nase tief vergaben in einem alten Märchenbuch, während aus dem Orchestergraben das einschlägige Bläsermotiv der Ouvertüre erschallt. Während sie immer konzentrierter liest, öffnet sich das große Meeresgemälde im Hintergrund und wird zum Schaukasten ihrer Vorstellungskraft. Dort trifft ihr Vater Daland – denn die junge Senta auf dem Sessel verschlingt das Märchen des Fliegenden Holländers – auf ebenjenen unsterblichen Kapitän. Dies gelingt in bekannter, düsterer Seemannsästhetik mit meeresfeuchten schwarzen Mänteln, bleichen Gesichtern, verklebten Haaren und salzzerfressenen Hüten. Magnus Dietrich eröffnet als Steuermann eindrucksvoll mit unangestrengtem Tenor und einprägsamem, weil warm-goldenem Timbre. Sofort wünscht man mehr davon.

Staatsoper Berlin/HOLLÄNDER/Marina Prudenskaya, Amelie Sturm, Damen des Staatsopernchores/Foto: Jakob Tillmann

Am nächsten Morgen ist jedoch Schluss mit Träumerei: die Sängerinnen des Berliner Staatsopernchores stürmen als Armada von Haushälterinnen gekleidet das Wohnzimmer, „Summ‘ und brumm‘, du gutes Rädchen“ präzise und leicht im Klang zum Besten gebend, um den Fußboden und die verschlafene Senta auf Vordermann zu bringen. Diese verkriecht sich nach widerwilligen Bekleidungsversuchen hinter Möbeln oder gar unterm Tisch, um ihr Märchen weiterzulesen. Doch Frau Mary (Marina Prudenskaya) hat kein Erbarmen: halte das Kinn höher! Zieh das Korsett an! Sing die Ballade nicht! Das alles in tadelnden Mezzo mit absichtlich spitziger Aussprache und wenig Geduld.

Auch Andreas Schagers Erik kommt ungelegen, wenngleich Schager hier nicht nur mit seiner Stimmkraft beeindruckt, sondern besonders durch elegante, romantisch angelegte Phrasierung. Nach vielen erfolgreichen Auftritten als Siegfried steht ihm die viel kürzere Rolle des Erik, hier ein wohlmeinender Sympathieträger, dem nur ein Quäntchen Verständnis fehlt, bestens zu Gesicht.

Jan Martiník als Vater Daland bringt einen eher luftigen Klang mit bassbaritonalen Höhen, aber dennoch sicherer Tiefe auf die Bühne – und im zweiten Akt schließlich einen angedachten Gatten für die Tochter. Es ist: Klaus Schabinski, Komparse in Knickerbockern. Die Begegnung ihres Vaters mit dem legendären Holländer hat Senta (nun gesungen von Vida Miknevičiūtė) schließlich nur geträumt; das wird jäh klar. Eine Lösung für diesen Sachverhalt liefert ausgerechnet der Holländer (Gerald Finley) selbst. Der bleibt unter Stölzls Regie stets im Irrealen und singt im Schaukasten von Sentas Vorstellungskraft, diesmal ein nachgebautes Wohnzimmer gleich dem des Vordergrunds. Dieser fiktiven Figur des Holländers fühlt sich Senta zutiefst verbunden, teilt sie doch den Wunsch nach Erlösung – in ihrem Fall Erlösung von wiederholten Versuchen, sie zu verheiraten und zur erwachsenen Frau zu machen – und Suche nach ewiger Ruhe und Freiheit, in diesem Fall symbolisiert durch das weite, uferlose Meer und den Seefahrerberuf. Stellvertretend für Sentas Sehnsüchte und die Verzweiflung, in einer nimmer endenden Realität gefangen zu sein, steht daher der Holländer, gleichzeitig als Mensch und als personifizierter Wunsch, mit dem sie sich unterhält wie mit einem realen Mann, den sie liebt.

Staatsoper Berlin/HOLLÄNDER/Jan Martiník, Gerald Finley, Herren des Staatsopernchores/Foto: Jakob Tillmann

Gerald Finley singt diese wortwörtlich in unerwarteten Dimensionen angelegte Figur geschmeidig und eher weich für einen leidenden Unsterblichen. Gelegentlich übertrumpft das Orchester, das sich nicht zurücknimmt, seine hohen Töne, doch seine Stimme fügt sich insgesamt dieser Konzeption des Holländers: als ein Teil Sentas eher zerbrechlicher Seele passt eine Stimme, die mit Melancholie in den reflektierenden Passagen punktet. Sentas „Was ich erblicke, ist’s ein Wahn?“ ist mit „Ja!“ zu beantworten, aber es ist ein verzweifelter Wahn, fassungslos gegenüber der Fremdbestimmung über ihr Leben. „Bis in den Tod gelob‘ ich Treu‘!“ könnte mit keinem größeren Ausdruck des Entsetzens gesungen sein.

Der dritte Akt eröffnet mit Hochzeitsfeierlichkeiten: der Chor der norwegischen Matrosen wird mit Durchschlagskraft, Schmiss und minimal unebenem Mittelteil von angeheitert tanzenden Hochzeitsgästen (nun die Herren des Berliner Staatsopernchores) gegeben, die zu allem Übel Sentas Märchenbuch vor ihren Augen zerreißen. Als Einziger scheint Erik einen Zugang zu ihr zu haben, wenn sie sich vor lauter emotionaler Überladung wieder unter dem Tisch versteckt: auf „ihrem“ Tisch sitzend, ergreift er kurz ihre suchende Hand. Doch Senta löst die Verbindung wieder, steht doch ein entscheidender Unterschied zwischen ihnen: sie hat ihn gern, vielleicht sogar lieb, doch sie will schlichtweg nicht heiraten, niemanden. Das folgende Trio zwischen Senta, Erik und dem Holländer mutiert daher zur mutigen Textumdeutung. Erik bleibt seinem Sinn treu und bittet um Sentas eheliche Treue, nicht verstehend, dass Senta mehr die Ehe als seine Person ablehnt, der Holländer als personifizierter Erlösungswunsch plädiert dafür, mangels Erfüllungschance selbst aufgegeben zu werden, denn sie würde an ihm sterben – statt Liebesduett ein intensiver Streit um die Natur der Treue. Wem soll man Treue schwören: seinem Herzen oder den Vorstellungen der Umwelt? Gibt man seinen tiefsten Wunsch auf, um sich treu den Verordnungen anderer zu beugen? Senta schlägt schließlich Erik und den Gatten mit einer Champagnerflasche nieder, doch gefangen zwischen Realität und einem unerreichbaren Wunsch, dessen auffressende Sehnsucht sie nicht aufgeben kann, muss die Sache im Desaster enden. Ihr eigenes Leben beendet sie, indem sie sich die Kehle mit einem zerschlagenen Sektglas durchschneidet. Erlöst. Das war eine bittere Selbstbestimmung. Dabei war von den ersten Tönen an deutlich, dass es mit dem scheuen, realitätsfliehenden Wildfang kein gutes Ende nehmen kann.

Staatsoper Berlin/HOLLÄNDER/Vida Miknevičiūtė, Gerald Finley, Amelie Sturm, Komparserie/Foto: Jakob Tillmann

Vida Miknevičiūtė beeindruckte in Berlin diese Spielzeit bereits in mehreren Rollen mit einem einzigartigem Talent für seelische Versehrtheit, die bis an den Rand des Zerbrechens führt und doch die Zärtlichkeit nie besiegt. Als Senta ist sie scharfkantig und liebenswert zugleich, wie sie andere vor den Kopf stößt und sich verbissen an dem überdimensionierten Märchenbuch festklammert. Bereits das „Johohe!“ der Ballade hat eine fiebrige Intensität, stets im Wechsel mit sanften Klängen, ihre letzten Sätze dagegen grausige Entschiedenheit – das verlangt große Kontrolle über diese sehr konzentrierte, durchsetzungsfähige Stimme, metallisch im Klang, glühend in den hohen Noten.

Matthias Pintscher am Dirigentenpult veranlasst die Berliner Staatskapelle zu einem dynamischen Auftakt und unterstützt mit seinem Dirigat die zunächst harmlos wirkende Piratenfilmästhetik würdig eines Schauermärchens, indem er die vielen Stimmungswechsel effektvoll gestaltet, Pausen in der Musik auskostet und durchaus gewaltige Wogen in den Tönen der Blechbläser und Geigen entstehen lässt; das Meer tost aus dem Graben herauf. Auch Chor und Orchester balanciert er geschickt, sodass im letzten Akt die Chorauftritte zu schwungvollen Krachern werden – von gemunkelten Tempoproblemen keine Spur mehr.

Für Freunde des traditionellen Holländers dürfte die Inszenierung zu einem plötzlichen Schock ausgeartet sein, bezeugt durch den Ausruf „der Wagner hätte sich im Grabe umgedreht!“ aus dem ersten Rang links. Wer Herrn Wagner jedoch im Grabe liegen lässt, darf auf seinem Sitz eine Vorstellungsserie verabschieden, die bei gelungener Ästhetik und musikalischer Qualität zum rasenden, stets sinnigen, wenngleich tückisch versteckten Ideentriumph wurde.

 

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