2018 ist Giuseppe Verdis Otello, noch unter Kirill Petrenko, neu in den Spielplan der Staatsoper in München aufgenommen worden, damals mit dem Traumpaar Anja Harteros und Jonas Kaufmann. Schon im Vorfeld der diesjährigen Münchner Opernfestspiele jagten sich die Ankündigungen von Besetzungsänderungen. Am Abend der ersten Vorstellung sah man langjährige Opernbesucher etwas ratlos vor dem Besetzungsplan stehen; immerhin waren Gerald Finley als Jago, Evan Leroy Johnson als Cassio und Bálint Szabó als Lodovico von der Premierenbesetzung dabei.

Loading image...
Arsen Soghomonyan (Otello) und Ailyn Pérez (Desdemona)
© Wilfried Hösl

Arsen Soghomonyan, in Eriwan/Armenien geboren und aufgewachsen, hat die Titelpartie des Otello schon unter Zubin Mehta in der Berliner Philharmonie interpretiert, gestaltete in München bereits einen bemerkenswerten Pierre Besuchow in Prokofjews Krieg und Frieden. Und die Amerikanerin Ailyn Pérez debütierte an der Bayerischen Staatsoper bereits 2015 als Adina in L’elisir d’amore und sang seither hier u. a. Alice Ford (Falstaff) und Mimì. Edward Gardners Münchner beeindruckendes Hausdebüt beim Dirigat von Benjamin Brittens Peter Grimes liegt erst fünfzehn Monate zurück. Voilà: eine festspielwürdige Besetzung also an diesem Abend!

Und zu Beginn gleich ein ungewöhnlicher Einstieg: Amélie Niermeyer stellt in ihrer Inszenierung bei der Rückkehr von Otellos Mannen aus der Seeschlacht der venezianischen Flotte nicht das turbulente Treiben am Hafen ins Zentrum; im Mittelpunkt bewegt sich Otellos Gattin Desdemona, die in einer Mischung aus Anspannung und Vorfreude unruhig in ihrem Gemach hin und her eilt. Das Schlafzimmer ist auf Christian Schmidts aparter Bühne dazu einige Meter empor gerückt, zeigt einen klassizistisch hohen Raum schlichter Eleganz, mit Kaminfeuer und Ledersessel, in fahlen Anthrazit-Tönen. Otello ist siegreich, jedoch müde und vom Krieg gezeichnet; die Begrüßung fällt nur flüchtig aus. Im Schatten darunter, zunächst mehr hör- als sichtbar, das ausgelassene Feiern der Soldaten, wo Weinflaschen kreisen, Hauptmann Cassio mit einer Sektdusche trunken gemacht wird und überglücklich mutige Bräute eilig brennende Ärmel wie Fackeln durch die ausgelassene Menge tragen.

Loading image...
Ailyn Pérez (Desdemona) und Gerald Finley (Jago)
© Wilfried Hösl

Auf der unteren Ebene schwenken die Chorsänger zur Seite, ein weiterer, identischer Kamin wird sichtbar, an dem eine gedoppelte Desdemona, wie ihr „Spiegelwesen“ einige Meter darüber, das Feuer schürt. Was ist Wirklichkeit, was glaubt man nur zu wissen? Niermeyer spielt virtuos damit, dass nichts so ist wie es scheint; im immer wieder sich neu gruppierenden Bühnenbild wie in den undurchsichtigen Vorwürfen der Untreue, denen sich Desdemona zunehmend ausgesetzt sieht. Sein oder Schein wird hier zur Frage.

Die Seefahrer-Romantik tritt immer mehr in den Hintergrund; das Thema Treue und Vertrauen ist zu wichtig, was wirklich war und wer welchen Wünschen nacheilt: das wird von Niermeyer im Laufe der spannenden Handlung des Abends meisterhaft entwickelt. Auch die Kostüme von Annelies Vanlaere abstrahieren vom maritimen Ursprung in eine unbestimmte Gegenwart, in der Bundfaltenhosen, Zweireiher und hochgeschlossene Kostüme in gedeckten Grau- oder Grüntönen dominieren. Virtuelles und Realität vermischen sich auch geschickt in den Videoprojektionen (Philipp Batereau) zu Beginn des zweiten und dritten Akts, lassen die Spielebenen durcheinander taumeln.

Loading image...
Arsen Soghomonyan (Otello) und Ailyn Pérez (Desdemona)
© Wilfried Hösl

Die Figur des Jago, abgrundtief böser Intrigant, der im venezianischen Machtspiel zu kurz zu kommen glaubt, wird von Gerald Finley voll von negativer Energie fesselnd und stringent verkörpert. Gerade sein „Glaubensbekenntnis“, zum „Ebenbild eines grausamen Gottes geschaffen“ zu sein, den großherzigen Otello durch ein Lügengespinst über scheinbare Verfehlungen seiner Gattin vernichten zu wollen, trug er zu Beginn des zweiten Akts in allen teuflischen Schattierungen vor. Dabei konnte man sich freuen über einen Jago der leisen Zwischentöne: wirkungsvoll manipulierend, darin nur selten aufbrausend oder gar polternd. Dass er als einziger in heller, lässiger Kleidung aus Shirt und Jeans spielte, könnte eine Anspielung sein, dass er aus einer anderen, durchaus komplexen Intelligenz heraus agiert.

Die Chorszene des zweiten Akts, in der Mädchen und Frauen Desdemona Geschenke und Musik zu einem kleinen Fest überreichen, war ein weiterer Höhepunkt der Regie. Desdemona wird mit verbundenen Augen in den ungewohnt lichten Raum geführt, von allen Seiten kommen Blumenkinder und Mandolinenspieler, hüllen sie in ein geradezu paradiesisch buntes Blütenmeer – wer hier den Schluss zieht, Desdemona könnte am Ende auf einem Totenbett liegen, hat die fließende Grenze zwischen Schein und Sein gespürt; erst recht wenn ein verschlagener Jago sich eine Mandoline verschafft und unter die Gratulanten gemischt hat!

Loading image...
Arsen Soghomonyan (Otello) und Gerald Finley (Jago)
© Wilfried Hösl

Ein von Jagos Einflüsterungen verunsicherter, argwöhnischer Otello und eine im guten Glauben für einen Untergebenen bittende Desdemona: die Auseinandersetzung zwischen beiden wird körperlich, verletzende Hitze lodert wie in den beiden Kaminfeuern. Arsen Soghomonyan spielte fast überhitzt triumphierend, innerlich aber schwach und abhängig: eine ideale Otello-Studie. Dass bei ihm die Tenorhöhe mit dem Timbre eines dunklen Baritons verschmolz, machte sein Auftreten erst recht herb und abweisend.

Ailyn Pérez, in ihren wallenden Mantel eingeschlossen, war anfangs die demütige Ehefrau. Erst nachdem sie die Verleumdungen durchschaut, erscheint sie im vierten Akt im hell scheinenden Nachtkleid, wissend geworden und selbstbewusst. Atemberaubend die Strophen ihres Weiden-Lieds, voller Glaube das Ave Maria, aus edelmürben Spitzentönen wie verglimmend bis in hauchzarte Pianissimi hinein: man musste einfach den Anschein einer Rolle vergessen, ihr Desdemona-Sein atemlos bewundern!

Edward Gardner verstand es, mit Staatsopernchor und -orchester Verdis vorletzte Opernpartitur berückend klangschön umsetzen. Immer mehr subtile Einblicke in die seelischen Abgründe zogen vom ersten Augenblick an die Hörer sogartig in ihren Bann. Ein aufrüttelndes Otello-Erlebnis!

****1