Entgegen anderen Shakespeare-Stoffen ist Hamlet nur selten in einer Oper behandelt worden, obwohl das zentrale Zitat zeitenübergreifend sich verselbstständigt hat: Sein oder Nichtsein, das ist die Frage, die sich Hamlet beim Monolog im dritten Aufzug stellt. Ambroise Thomas' Hamlet von 1868 hatte in Paris kurzzeitig Aufmerksamkeit erfahren; Anno Schreiers Hamlet, Auftragswerk des Theaters an der Wien, wurde 2016 uraufgeführt, also kurz vor Brett Deans Komposition.

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Hamlet
© Wilfried Hösl

Der Australier, lange als Bratschist bei den Berliner Philharmonikern tätig, hat zusammen mit seinem Librettisten Matthew Jocelyn nach Shakespeares Hamlet-Stoff 2017 eine Oper im Auftrag des Glyndebourne Festivals geschrieben; sie wurde anschließend auf der Glyndebourne-Tournee sowie beim Adelaide Festival aufgeführt. 2019 kam sie in einer Neuinszenierung erstmals nach Deutschland, ins Staatenhaus, der temporären Heimat der Oper Köln.

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Allan Clayton (Hamlet)
© Wilfried Hösl

Die Bayerische Staatsoper brachte Brett Deans Hamlet nun wieder in Neil Armfields 2017 ursprünglicher Inszenierung aus Glyndebourne als erste Premiere der diesjährigen Opernfestspiele auf die Münchner Bühne. Die Uraufführung einer neuen Oper von Brett Dean, anfänglich für diesen Termin geplant, wird auf einen späteren Termin verschoben. Dean und Jocelyn hatten sich dafür entschieden, in ihrem Libretto die Poesiesprache von William Shakespeare in ihrer unverfälschten, wahren Gestalt direkt zu übernehmen. Straffungen gab es bei der Zuordnung von Textstücken zu bestimmten Rollen, Umstellungen zentraler Textstellen innerhalb des Werks verstärken wie Akzente die Unerbittlichkeit des Handlungsablaufs.

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Sir John Tomlinson (Geist des Alten Hamlets) und Allan Clayton (Hamlet)
© Wilfried Hösl

Mord- und Rachegedanken treiben Prinz Hamlet an, als er erfährt, dass es sein Onkel Claudius war, der seinen verehrten Vater, König von Dänemark, ermordet und sich dann Krone und Frau seines Vaters angeeignet hat. Seine Liebe zu Ophelia, Tochter von Polonius, einem der Ratgeber von Claudius, scheitert. Aber Hamlets Rachegedanken kreisen um Widersprüche zur Frage, ob Selbstmord in einer unerträglich schmerzhaften Welt eine moralisch gültige Tat sein könnte.

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Caroline Wettergreen (Ophelia) und Sophie Koch (Gertrude)

Für den Münchner GMD Vladimir Jurowski, der bereits in Glyndebourne Mit-Auftraggeber des Werks war und die Uraufführung dirigierte, ist Deans Musiksprache ein ebenbürtiger Träger der Poesie Shakespeares, lässt seine Rollencharakterisierung in unverfälschter Gestalt herüberkommen. Brett Dean, dessen Werke für artifiziell spannungsvolle Geflechte unheimlichster Klangtiefen mit von grell beklemmenden Akkordstürmen umwirbelten Blechgewittern bekannt sind, hat auch bei Hamlet eine unmittelbare Körperlichkeit des Klanggeschehens erreicht, am Rand des Hochexplosiven gar; dazwischen doch Inseln von meditativ Lyrischem angelegt, wenn es um menschliches Miteinander oder innerlich zerreißenden Kampf geht. Dazu hat Jurowski ein umfangreiches Staatsorchester im Graben, das ungeheuer virtuos aufwühlend, jenseitig oder auch von einfach zarter Schönheit musizierte; ein Trio erklang intim aus einer Seitenloge. Die Musiker spielen auch auf Plastikflaschen, Metallobjekten oder lassen Steine „klingen”. Der Chor ist auf Bühne und Orchestergraben verteilt, Gruppen singen von verteilten Stellen in den Rängen, so dass man das Gefühl bekommt, der ganze Raum sei wie im Surroundklang erfüllt von Stimmen. Diese nehmen auch einzelne Worte auf, imitieren, repetieren sie wie in der Minimal Music, karikieren sie dadurch im wogenden Klangschwall. Dass das Orchester den Gesang der Solisten zumeist nicht zudeckt, war angesichts des riesigen Ensembles eine positive Überraschung. Weil Texte weniger an Melodielinien gekoppelt sind, können manche Szenenabläufe durchaus auch geschwätzig, ja ermüdend wirken.

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Sir John Tomlinson (Totengräber) und Allan Clayton (Hamlet)
© Wilfried Hösl

Ralph Myers' Bühne ist ein elegant klassizistischer Festsaal, dessen raumhohe Seitenfenster immer wieder für eindrucksvolle Schlaglichter und Schattenprojektionen genutzt werden. Alice Babidge hat die Herren ganz klassisch in Anzüge gekleidet, die Frauen in Abendkleider. Hamlet, in eher abgetragenem Outfit, wirkt wie ein Fremdkörper in dieser feinen, feiernden Gesellschaft. „… or not to be“: nach sechs Minuten fällt bereits ein Bruchstück dieser berühmten Worte, dafür mehrfach wiederkehrend, wenn der vom schnellen Hochzeitstrubel zutiefst verstörte Hamlet mit seinen Gefühlen ringt. Der englische Tenor Allan Clayton ist sängerisch und spielerisch eine ideale Besetzung, hat seit der Uraufführung die Rollencharakterisierung vertiefen können. Seine metallisch leuchtenden Spitzentöne zeigten Entschlossenheit und Kampfgeist; lyrisch abgedunkelte Register wusste er in den Momenten von Ratlosigkeit und Verzweiflung einzusetzen, wenn ein nachdenklicher Prinz zum etwas hyperaktiven, fast clownesken Außenseiter mutiert.

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Allan Clayton (Hamlet), Rodney Gilfry (Claudius), Sophie Koch (Gertrude) und Sean Panikkar (Laertes)
© Wilfried Hösl

Caroline Wettergreen war eine bezaubernd mädchenhafte Ophelia, die anfangs vom Ränkeschmieden um sie herum nichts mitbekommt. So waren ihre aufblühend klaren Sopranhöhen wahre Lichtblicke im ersten Teil; wenn sie später aus Verzweiflung über den Tod ihres Vaters und die Zurückweisung durch ihren geliebten Hamlet in den Tod getrieben wird, konnte sie das leidenschaftliche Ringen ihrer Seele in ihrer erschütternden Verletzlichkeit herausschleudern, in atemberaubendem Wahnsinn ihrer Halluzination ihre Koloratur ausspielen.

Neben Clayton waren in München noch weitere Rollen durch Mitwirkende der Uraufführung besetzt: Rod Gilfry als machthungriger Claudius, Jacques Imbrailo als wunderbar empathischer Freund Horatio des Hamlet, James Crabb als versierter Akkordeonspieler der Schauspieltruppe. Und ein gar nicht nur altersweiser, sondern dramatisch fordernder Geist von Hamlets Vater, subversiver Totengräber und kunstpfeifender Spieler des Bass-Veteranen John Tomlinson, dessen Aktivität immer wieder zum Schmunzeln trotz Gänsehaut anregte. Hamlets gerade erst verwitwete Mutter Gertrude wurde von Sophie Koch facettenreich gespielt, den umtriebigen Polonius charakterisierte Charles Workman treffend.

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Allan Clayton (Hamlet) und Jacques Imbrailo (Horatio)
© Wilfried Hösl

Eine traurige wie grausame Wucht am Ende: die spannende Fechtszene zwischen Hamlet und Ophelias Bruder Laertes, in deren sich überstürzendem Verlauf mehrere Personen, vergiftet oder verletzt, sterbend am Boden liegen: Hamlet in den Armen seines treuen Horatio, dem er verhauchend noch mitgibt: „the rest is silence ...“. Nicht so ganz: viel Beifall, wenige Buhs.

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