Die Parabel vom unsympathischen Politiker – „Lohengrin“ an der Deutschen Oper Berlin

Deutsche Oper Berlin, copyright: Leo Seidel
Deutsche Oper Berlin, copyright: Leo Seidel

Der Däne Kasper Holten, international bekannt durch seinen „Ring des Nibelungen“ am Königlichen Theater in Kopenhagen, inszenierte letztes Jahrzehnt für die Deutsche Oper Berlin Lohengrin. Bei der diesjährigen Wiederaufnahme beweisen Besetzung und Inszenierung die Zeitlosigkeit der Erzählung und ihren fabelartigen Charakter.  (Rezension der Vorstellung v. 25.06.2023)

 

Das Geschehen spielt, wie bereits von Holten angekündigt, in einer „Nichtzeit“ – einer uneindeutigen Epoche, zusammengeklaubt aus den vielen Zeiten der menschlichen Ernüchterung, Orientierungslosigkeit und Zersprengung. Es beginnt gar biblisch: zu den ersten Tönen der Ouvertüre, hoch und schwebend, leuchtet auf einem Gemälde auf der Hinterseite der Bühne eine Sternschnuppe auf. Doch dieser „Stern von Bethlehem“ zieht über ein Leichenfeld voller gefallener Soldaten – welchen Retter er auch ankündigt, wird viel zu tun haben. Frauen schleichen sich in dieser Nacht hinaus auf das Feld, um die toten Gesichter nach denen ihrer Angehörigen und Geliebten abzusuchen. Zu den schließlich kräftig tönenden Schwingungen des Grals aus dem Orchestergraben bricht eine der nächtlichen Sucherinnen schreiend über einem geliebten Menschen zusammen.

Der Krieg geht bei Tag jedoch unerbittlich weiter. Im bleichen Licht der ersten Szene versammeln sich Choristen in Uniformen geschneidert aus denen sämtlicher bewaffneter Konflikte der menschlichen Historie, von alten Germanenkämpfen bis ersten Weltkrieg. Kampfesmüde und stark kriegsgeprägt werden die Brabanter die Mentalität des gehorchenden Heeres nicht los. Dementsprechend ergreift Lohengrin im Rittersgewand seine Chance: er setzt sich vor aller Augen Flügel aus strahlend weißen Federn auf, selbstinszenierend und gewollt engelsgleich. Ob sein Erscheinen tatsächlich so göttlich ist, wie es scheint, wird bereits im ersten Akt infrage gestellt: schließlich kniet Telramund als Erster zum gottesfürchtigen Gebet vor dem Zweikampf nieder. Lohengrin selbst scheint es ihm nur nachzumachen. Spätestens nach seinem Sieg ist die faktische Anbetung seiner Persönlichkeit nicht mehr aufzuhalten. Der von ihm eingeführte Gruß – angewinkelter Arm mit Faust gereckt gen Himmel – wird begeistert von den Brabanter Mannen aufgenommen. Seine öffentlichen Auftritte absolviert er mit gerecktem Kinn, ruhigen Bewegungen und der tapfer-leidenden Miene derer, die sich ganz freiwillig eine anstrengende Aufgabe auferlegt haben und der Welt nun das Heldentum ihres Opfers zur Schau stellen wollen. Es handelt sich um einen gerissenen Unsympath mit Seitenscheitel und gebügeltem Äußeren, spitz gesagt: ein handelsüblicher Politiker.

Deutsche Oper Berlin / Lohengrin / Foto: © Marcus Lieberenz

Im Privaten dagegen verliert er mit Elsa zunehmen die Geduld, wie beispielsweise in der Szene vor dem Münster, die Holten ganz ungeniert auf eine nachgebaute Theaterbühne mit klassisch rotem Vorhang verlegt. Die Inszenierung der glücklichen Hochzeit für die Öffentlichkeit lässt unübersehbar grüßen. Frei nach manchem Politiker ist Lohengrin auch kein Freund des bescheidenen Rücktritts nach dem unausweichlichen Desaster. Zum Entsetzen aller lässt er zuletzt enthüllen, dass Gottfried nicht in einen Schwan verwandelt, sondern ermordet wurde. Lohengrins Verweis auf die Kinderleiche, herbeigebracht von Elsa, der kleine blonde Schopf verklebt vor Schmutz, gepaart mit seinem „Seht da den Herzog von Brabant! Zum Führer sei er euch ernannt!“ zeugt von einer abscheulichen Selbstgerechtigkeit; die wenige Takte später ertönende Orchestermelodie von „Ruhm deiner Fahrt, Preis deiner Ehre“ zieht Holtens klugen Kunstgriff da beinahe ins Unerträgliche. Immerhin hat Elsa schon lang vor dieser Szene deutlich genug von seinem Getue – seiner Gralserzählung lauscht sie abgewandt mit angeekelter Miene, während die Brabanter noch sehnsüchtig die Hände nach ihm ausstrecken.

Attilio Glaser debütiert als Titelfigur mit jugendlichem Timbre und ruhigen Gesten, die Holtens Absichten gelassen transportieren. Während im ersten Akt der Klang des Tenors in den lautesten Passagen noch etwas eng anmutete, entfaltet sich die Stimme bald zu voller Pracht und stattet den erwähnten „Politiker“ mit strahlendem Klang aus, der hörbar der italienischen Oper entspringt. Zugegeben, der heldische Unterton fehlt – doch bei einem Lohengrin, der im Gottesgericht den verwirrten Telramund von hinten überrascht, ist statt dunklen Heldentönen die gesangliche Wendigkeit eines lyrischen Tenors durchaus angebracht.

Flurina Stucki als Elsa bietet eine gesangstechnisch hervorragend geführte Stimme – der reife Klang, der in der Mittellage fast einen mezzohaften Einschlag an den Tag legt, beißt sich zu Beginn jedoch ganz ohne Schuld der Sängerin etwas mit Holtens zunächst sehr in der Naivität angelegten Figur. Insgesamt bereitet die Naivität Elsas ohnehin leichte Schwierigkeiten, es kommt zu einigen überdeutlichen Gesten, aber in Phrasen wie dem leisen „in Lieb’ erglüht“ ist dies vergessen. Die misstrauisch gewordene, erwachsenere Elsa gelingt der Schweizer Sopranistin zum Schluss treffsicher; die alles entscheidende Frage wird mit fester Entschiedenheit, gar Selbstbewusstsein, dem zunehmend unangenehmen Gatten entgegengeschleudert.

Thomas Johannes Mayers Telramund peitscht sein trocken-graues Timbre, das bestens zu seinem Kostüm eines frühzeitlichen Kriegers passt, immer wieder in schonungslose Phrasierungen. Darstellerisch wie stimmlich gelingt ihm ein unglaublich greifbarer Charakter, der sich in seiner Gattin Ortrud auf jemanden eingelassen hat, der ihm gehörig über den Kopf gewachsen ist. Dennoch möchte man ihm nicht seinen Mut absprechen – dass er einst ein Held war, erscheint allzu plausibel, ein Mann ohne ein Spur Verlogenheit. Den Preis für diese Lebendigkeit zahlt Mayer mit der Stimme; zum Schluss rutscht er ins leicht Krächzende und schafft es doch scheinbar mit schierer Willenskraft ans Ende. Im Ganzen beeindruckend; da ist einer wahrlich „lieber tot als feig“.

König Heinrich (Albert Pesendorfer) tönt währenddessen mit markigem Bass – eine schallende Autorität, die sich stets zu Würde aufrafft, und wird unterstütz durch Thomas Lehmanns Heerrufer mit fähigem, frischem Bariton.

Als Ortrud singt Anna Smirnova mit giftigem Sopran im besten Sinne und bietet vokal eine grimmige Darstellung; darstellerisch wird Ortruds Bosheit und Heuchlerei Elsa gegenüber drastisch überzeichnet. Aber warum eigentlich nicht? In Holtens düsterer Nachtwelt zu Beginn des zweiten Aktes, voller grüner Laserstrahlen und einem wortwörtlichen Kreuzgang, ein schwebender Gang in Form eines Vergebungs- und Erlösungssymbols auf dem Elsa schlafwandelt, scheint alles erlaubt. Nicht zuletzt dank Smirnova stellt sich im Laufe des Abends die Frage, ob man hier eigentlich einer Typenstudie beiwohnt statt einer charakterlichen Entwicklung – solche scheinen einzig Elsa vorbehalten, wobei sie auch für die Herzogstochter nur im Groben bleiben. So erhält der ganze Abend eine Art Parabelcharakter – in Holtens Deutung möglicherweise unbeabsichtigt, doch keinesfalls unpassend zur geradlinigen Erzählweise.

Dirk Kaftan erfindet im Orchestergraben die Partitur an diesem Abend nicht neu, setzt aber dennoch Akzente. Gerade die kunstvoll dirigierte Ouvertüre beeindruckt im Zusammenspiel mit der starken Eröffnungsszene; kurz vor Schluss ertönen mitreißende Crescendi der Blechbläser. Im zweiten Akt knarren die Holzbläser düster, das Fragemotiv schwebt stets auch an weniger exponierten Stellen immer wieder hörbar an die Oberfläche. In den großen Chorszenen schmelzen die melodischen Stränge zu einer Gesamtgewalt; wogend gestaltet sich der Abend, zwar nicht überlaut, aber manchmal kratzend an dieser Grenze. Der Chor der Deutschen Oper Berlin bietet, trotz der erschöpften Gesellschaft, die er darstellt, einen sehr präsenten Klang in allen Lagen – selbst der berühmte Hochzeitschor tönt reichhaltig ohne Schwebeklänge in den Saal.

Dass diese Inszenierung mitunter elf Jahre alt ist, fällt den ganzen Abend trotz der Politik des Inhalts nicht weiter auf. Die Eröffnungsszene auf dem Leichenfeld erinnere an den Krieg in der Ukraine, kommentierte der Sitznachbar, vermutlich eine häufigere Assoziation im Publikum. Wie jede Parabel kann man diese Geschichte immer erzählen – möge man ihren Inhalt in der Wirklichkeit nur aufmerksam wiederfinden können, wenn man bereits mittendrin steckt.

 

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Ein Gedanke zu „Die Parabel vom unsympathischen Politiker – „Lohengrin“ an der Deutschen Oper Berlin

  1. Mega schön geschrieben. Danke! Freu mich auf das morgige Wiedersehen dieser Inszenierung und bin jetzt richtig gut vorbereitet 🙂

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