Vorsicht, Großinquisitor frühstückt mit – „Don Carlo“ an der Staatsoper Unter den Linden

Staatsoper Berlin/DON CARLO/Aleksandra Kurzak,  René Pape, Staatsopernchor/Foto @ Bernd Uhlig

Dass der Frühstückstisch zum Ort des Kampfes ausarten kann, ist spätestens seit Loriots animierten Sketchen um das Frühstücksei öffentlich anerkannt. Wenn dann jedoch auch die spanische Großinquisition am selben Tische platznimmt, wird es lebensgefährlich. In Philipp Himmelmanns Don Carlo gestaltet sich unter genau diesen Umständen ein Drama, bei dem man weder hin- noch wegsehen können möchte – doch es siegt natürlich das Hinsehen. (Vorstellung v. 28.06.2023 / Wiederaufnahme)

 

Alles dreht sich um einen Tisch. Teetassen aus weißem Porzellan verweisen auf Frühstück oder Kaffee trinken. Einerseits ist Philipp Himmelmanns Don Carlo ein Familiendrama, in dem die Mitglieder zwischen Freiheitssehnsucht und Machterhalt schwanken, sich in Lager aufteilen und es nie schaffen, einen familiären Zyklus von Wirrungen und Gewalt zu durchbrechen. Carlo, Infant von Spanien auf einer Seite, der sich in der Liebe zur Ehefrau seines Vaters quält, die er anstandshalber nicht lieben darf und schließlich versucht, seinen Wunsch nach emotionaler Freiheit anders auszuleben, indem er sich von den Freiheitsbestreben für die Provinz Flandern seines Jugendfreundes Rodrigo von Posa anstecken lässt – auf der anderen Seite König Philipp II, der an der Vorstellung festhält, Frieden durch Unterdrückung erzwingen zu können, wohl aufgrund seiner eigenen Angst vor der wachsamen, unausweichlichen spanischen Inquisition, die selbst Königen zu Leibe rücken kann. Dies alles geschieht in moderner Ausstattung und Kleidung – im weitesten Sinne eine Überlegung oder Fantasie, wie sich Politik gestalten würde, wäre die Säkularisierung nie passiert.

Staatsoper Berlin/DON CARLO/Eve-Maud Hubeaux, George Petean/Foto @ Bernd Uhlig

Der erwähnte Tisch im Mittelpunkt der Inszenierung (Bühnenbild: Johannes Leiacker) verdeutlicht nun ein Zitat von Karl Kraus, angeführt im Programmheft: „Das Wort ‚Familienbande‘ hat einen Beigeschmack von Wahrheit“. Die Familienmitglieder sind miteinander verknüpft wie durch unsichtbare Bande; keiner schafft es, sich voneinander loszulösen und eigene Pfade einzuschlagen. Stattdessen erwürgen die Bande sprichwörtlich die Familienmitglieder, wenn Verstrickungen, Geheimnisse und seelischer Druck zu viel werden. Diese Visualisierung funktioniert meistens, schließlich sind wenige Bilder so einschlägig wie sich anschweigende, zerstrittene Menschen, die trotzdem nebeneinander Frühstückseier aufklopfen. Jeder schmort in der eigenen Unsicherheit. Gelegentlich wäre ein Exkurs in einen tischfreien Raum wünschenswert, beispielsweise in der Gefängnisszene, in der Carlo unerklärlicherweise in seinem eigenen Wohnzimmer inhaftiert ist, oder der Szene nachts in den Gärten. Die Machenschaften der familiären „Bande“ gestalten sich auch nicht immer ganz deutlich – Eboli beispielsweise ist bei Tische stets vertreten, hebt sich aber durch ihre uniformähnliche Kleidung ab und treibt in ihren Gemächern mit ihren Gespielinnen und dem naiv-verzückten Kammerdiener Tebaldo (Regina Koncz) erotische Spielchen.

Staatsoper Berlin/DON CARLO/Stefan Pop , George Petean, Eve-Maud Hubeaux, Rafał Siwek, Staatsopernchor/Foto @ Bernd Uhlig

Das Autodafé dagegen brilliert gerade dank des Tisches mit ungeheurer Intensität – die königliche Familie diniert, umgeben vom tragend schwermütig singenden Berliner Staatsopernchor, während vor dem Tisch am vordersten Bühnenhand nackten Ketzern gewaltsam der Mund zugeklebt wird und Benzin über ihnen ausgegossen wird, bevor sie an den Füßen hoch in die Luft gezogen werden. Diese Drastik verursacht von manchem Zuschauer Buhrufe zur Pause, doch es stellt sich die Frage, wie man sich stattdessen eine Ketzerverbrennung wünschen würde – denn die Realität war sicher noch grausamer als diese ästhetisch-brutale Szene. Ähnlich eindrücklich gelingt die Konzeption des Großinquisitors, eines sich langsam bewegenden Wesens, wie ferngesteuert von einer Religion, die längst zur menschenfressenden Ideologie ausgeartet ist. Seine Mannen, schwarz gekleidet wie Agenten, halten Feuerzeuge an die Haare der kopfüber hängenden Ketzer; der Vorhang fällt gerade rechtzeitig, bevor Menschen angezündet werden. Am Ende der Tragödie sieht man sich auch wieder am selben Tisch, nun ohne Eboli und Carlo. Letzterer wurde auf ein Handzucken des Großinquisitors in Hintergrund der Bühne erschossen. Der Großinquisitor nimmt danach Platz auf dem Stuhl des toten Sohnes und hält Elisabeth wie selbstverständlich seine Tasse hin. Sie muss Tee einschenken. Das schmeckt gallenbitter.

Stimmlich dagegen strahlt der Abend; der Tenor Stefan Pop gestaltet die Titelpartie mit breiter, belastbarer Stimme, prädestiniert für tragische italienische Rollen. Feilt er noch ein wenig an den Piani, damit sie alle so konzentriert daherkommen wie ganz zum Schluss, dann ist seiner Fähigkeit zur großen Tragik noch ein weiterer kleiner Vorsprung gegeben. Mit der Personenregie hat die Figur des Carlo es in dieser Inszenierung nicht einfach – seine Freundschaft mit Rodrigo von der ersten gemeinsamen Szene wird bedauerlich knappgehalten abseits des gesungenen Textes. Nicht einmal die Hand des sterbenden Freundes darf der grauenerfüllte Carlo hier ergreifen, obwohl Rodrigo ihn so inständig darum bittet. Auch der Marquis hat es als Figur nicht gerade leicht; die Inszenierung betraut die Rolle mit dem Anzug eines gehobenen mittelständischen Büroangestellten, einem Aktenkoffer und ungefähr ebenjenem Charme. Unter diesen Umständen neigt George Petean in den Duetten des ersten und zweiten Aktes stellenweise zum Untergehen, triumphiert aber im dritten mit der Arie „Convien qui dirci addio“ vor seinem Tod, die ihm mit mitreißenden Crescendi großen Szenenapplaus einheimsen.

Die Frauenrollen gelingen beide markant – Aleksandra Kurzaks auffällige, sehnige Stimme ist als Elisabeth von Valois durchaus zu Fülle und Durchschlagskraft fähig mit einer hervorragenden Kontrolle über die vielen verlangten leisen Töne. Eve-Maud Hubeaux singt Prinzessin Eboli derweil mit verführerischem, hellem Mezzo, den sie allerdings auch zu polierter Rage aufbügeln kann, sehr feminin im Klang und nie schwach. Die Figur in Hubeaux’ Händen kann einen ohnehin gar nicht kalt lassen, wie sie viel zu lange eifersüchtelt und sich am Ende zu leider insgesamt scheiterndem Heldenmut aufrafft.

Staatsoper Berlin/DON CARLO/Aleksandra Kurzak, René Pape, Rafał Siwek/Foto @ Bernd Uhlig

Heimlicher Star des Geschehens ist aber möglicherweise doch René Papes Philipp II. Da zeigt sich, was einen Bass von Weltklasse ausmachen kann: eine außerordentlich klare, aber starke Stimme und die seltene Wandlungsfähigkeit in seiner eröffnenden Arie des 3. Aktes, „Ella giammai m’amò“, sämtliche Gefühlslagen in kleinen Modulierungen der Stimme emotional zu transportieren. Die genaue Examinierung von Philipps Verlangen, geliebt zu werden und seinem emotional unsicheren Kern beeindruckt ganz besonders und wird gerade im Streit mit dem Großinquisitor (Rafał Siwek) brenzlig. Der bietet mit hohl hallendem, schwärzlichem Klang einen hervorragenden Kontrast zum spanischen König. Der Streit zweier Bässe – akustisch so selten vergönnt im Opernrepertoire – beweist nun wieder, wie sehr diese Stimmlage fesseln kann. Grigory Shkarupa als Mönch vollendet mit unfrohen Proklamationen in tiefer Lage die Besetzung.

Daniele Rustioni gelingt im Orchestergraben währenddessen durchweg eine Balance zwischen Verdis klassischem Schmiss und gediegener Würde; energiegeladen, doch nicht zu frenetisch, die düsteren Momente auskostend und in harmonischem Zusammenspiel mit den Sängern. Damit lässt er das Geschehen auf der Bühne mit einer gewissen Eleganz gedeihen, die die Inszenierung bereits ästhetisch auf der Bühne gestaltet und musikalisch ergänzend auch benötigt.

Den Saal verlässt man mit leicht ertapptem Gefühl – wer kennt es nicht, dieses ungemütliche Schweigen in der Familie, während jeder nur auf den eigenen Teller starrt? Man darf froh sein, dass man selbst solche mörderischen Fragen nicht bei Tee, Marmeladenbrot und Großinquisitor diskutieren muss.

 

  • Rezension von Lynn Sophie Guldin / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Staatsoper Berlin / Stückeseite
  • Titelfoto: STAATSOPER BERLIN/DON CARLO/Aleksandra Kurzak (Elisabeth von Valois), Stefan Pop (Don Carlo, Infant von Spanien)/Foto @ Bernd Uhlig
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3 Gedanken zu „Vorsicht, Großinquisitor frühstückt mit – „Don Carlo“ an der Staatsoper Unter den Linden&8220;

    1. Nein, das war er wirklich nicht. Aber sein NAMEN rettete ihn. Hätte ein Unbekannter solche eine Leistung geboten, möchte ich mir nicht ausmalen, wie das Publikum darauf reagiert hätte: Alles von eisigem Schweigen bis hin zu Buhrufen. Auch wenn es einer Kritikerin schmerzt, müßte sie so viel Ehrlichkeit besitzen, die Wahrheit zu schreiben, und das erst recht, wenn es sich um große Namen handelt.

      1. Ich bedauere sehr, dass Ihnen der König Phillip II nicht sehr gefallen hat – tatsächlich kann ich erfreut berichten, dass mich gar nichts schmerzt, da ich mit der Leistung ehrlich zufrieden war. Dass im Theater die Meinung auseinandergehen, ist ja allseits bekannt; ich kann daher von meiner Seite auch von Meinungen berichten, die ebenfalls erfreulich sind. Ich danke für Ihre Kommentare!

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