Englische Oper war nicht wirklich „in“ in London, als Georg Friedrich Händel 1743 nach seinen Oratorien-Erfolgen ein Werk für das Theatre Royal in Covent Garden plante. Mit Henry Purcells Tod 1695 war das gerade gewachsene Interesse an musikalischem Theater wieder erlahmt. Insbesondere für intellektuelle Kreise war die Oper eine Form von welschem Unsinn. So gab auch 1707 der Komponist John Eccles sein Opernprojekt wieder auf; der erfolgreiche Komödiendichter William Congreve hatte dazu ein englisches Libretto erstellt, einen Bilderbogen tragischer und komischer Szenen, aus einer Geschichte in Ovids Metamorphosen abgeleitet: das Schicksal der irdischen Semele, die sich in Jupiter verliebt und in den Intrigen seiner Göttergattin ihr Leben verliert.

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Brenda Rae (Semele)
© Monika Rittershaus

Händel griff den Congreveschen Stoff wieder auf, um einen neuen Ton des musikalischen Dramas zu finden, bei dem Tragik und Happy End eng zusammen lagen; „Oper nach der Art eines Oratoriums” nannte er das Werk beschwichtigend, an poetische Prosa eines Messiah oder Samson anknüpfend; doch der Erfolg blieb Semele von der Londoner Uraufführung 1744 an bis in unsere Gegenwart versagt.

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Brenda Rae (Semele) und Jakub Józef Orliński (Athamas)
© Monika Rittershaus

Semele, die Tochter des Cadmus, König von Theben, soll sich mit Athamas, dem Prinzen von Böothien verheiraten. Doch statt des Ja-Worts sagt sie beim Hochzeitszeremoniell „Nein“; die etwas eitle, naive junge Frau fühlt sich zu Höherem berufen, will sozial aufsteigen. Durch ihren heimlichen Geliebten, den altbekannten Frauenhelden Jupiter, wird sie schwanger; nicht unbedingt ein passender Oratorienstoff! Immerhin passt die Moral von der Geschichte dazu: denn Juno, eifersüchtige Jupitergattin und Schutzgöttin der Ehe, rächt sich an der allzu glückseligen und schließlich übermütig werdenden Ehebrecherin. Dazu instrumentalisiert sie deren Schwester Ino, die Semele überreden soll zur Aufforderung, Jupiter solle vor ihr in seiner wahren göttlichen Gestalt erscheinen, um sie ebenfalls unsterblich zu machen. Doch hat diese Hybris tödliche Konsequenz. Am Ende kann Ino Semeles ehemaligen Verlobten heiraten. Noch im Sterben darf Semele Bacchus gebären, der als Gott unter Göttern wohnen wird.

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Jakub Józef Orliński (Athamas) und Brenda Rae (Semele)
© Monika Rittershaus

Zumindest in Berlin, London, Zürich, sogar am Münchner Gärtnerplatz-Theater wurde zuletzt Semele ins Programm genommen. Nun hat, im Rahmen der Opernfestspiele, auch die Bayerische Staatsoper eine heftig bejubelte Neuinszenierung anzubieten, die in Kooperation mit der Metropolitan Opera New York entstand; Claus Guth führt Regie, die Vorstellungen im Prinzregententheater sind ausverkauft.

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Semele
© Monika Rittershaus

Die Braut, die sich nicht traut, wird in Guths Regie eher eine Senta, die ihrem Holländer folgt, die wie eine Getriebene dem Partytrubel einer Superhochzeit entfliehen will, welche von der Hochzeitsplanerin in den gleißend weiß getünchten, klassizistisch hohen Wänden des königlichen Prunksaals (Michael Levine) in Szene gesetzt wird. Bezeichnend schon zu Beginn: Braut und Bräutigam Hand in Hand hinter einem Gazevorhang wie auf einem Glamourfoto für die Familiengalerie, aus dem sich Semele plötzlich löst, hinter dem noch steif stehenden Brautkleid zur Seite tritt, das verloren an Athamas' Hand hängen bleibt. In Brenda Rae hat Guth eine überwältigende Solistin, die das extrem fordernde Rollenportrait ohne Schonung umsetzte und dabei bravourös fast ein Dutzend von Da-capo-Arien mit höchster stimmlicher Brillanz, Anrührung und Vielfalt in ihren funkelnden Koloraturen bewältigte.

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Brenda Rae (Semele)
© Monika Rittershaus

Auch den aufdringlichen Fotosessions des Fests, von Guth offenbar bewusst überzeichnet, entzieht sie sich wiederholt, beachtet die angebotenen Champagnerdrinks kaum; eine gestylte Dienerschar trägt sie wie in einem Domestikenballett auf, arrangiert große Lettern von L-O-V-E auf der Bühne und gezirkelte Stuhlreihen für ein imaginäres Theaterstück. Auch Athamas gelingt es nicht, Semele aus ihrem inneren Rückzug herauszuholen. Jakub Józef Orlinski versucht immer wieder, die festliche Stimmung zu retten, spielte frappierend fantasievoll bis zur (Tanz-)meisterlichen Breakdance-Einlage im zweiten Akt, begeisterte mit Virtuosität seiner facettenreichen Countertenor-Stimmlage, von hell leuchtendem Glanz ausgezeichnet.

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Michael Spyres (Jupiter) und Brenda Rae (Semele)
© Monika Rittershaus

Die Hochzeitsparty erfährt ein krasses Ende, als Semele mit einer Axt ein großes Loch in die blendend weiße Saalwand schlägt, Mauerbrocken zwischen die Stuhlreihen rollen. Dahinter ein unbekanntes schwarzes Nichts; von der Decke schweben rabenschwarze Federn. Der zweite Akt beginnt auf der Rückseite der Saalwand, nun ganz in Schwarz prangende Flügel-artige Vorhänge, später quellen Schals aus Federn wie Lavaströme aus dunklen Löchern. Eine Überwelt, in der schwarz gekleidete Götter und vor allem Göttinnen wie Juno das Sagen haben: Emily D'Angelo ist ein eleganter Vamp, den Semeles Eindringen, nun in schwarzer Robe, wütend macht. Eine hinreißende Besetzung dieser ungewöhnlichen Juno, die mit willensstarker Aktion und dramatischen Sopranhöhen begeisterte. Auch Jessica Niles wusste sich als ihre Botin und Kundschafterin lebhaft in Szene zu setzen.

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Jakub Józef Orliński (Athamas)
© Monika Rittershaus

Michael Spyres ist Jupiter – sowohl in seinem gebieterischen Auftreten wie auch seiner verführerischen Kunst in der Herren-Can-Can-Line: welche Semele würde sich in die Ausstrahlung dieses Gottes nicht verlieben! Und in den unendlichen Schmelz seines Tenors, den er auf feinem Edelholz eines baritonalen Fundaments aufblühen ließ!

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Emily D'Angelo (Juno) und Brenda Rae (Semele)
© Monika Rittershaus

Semele verglüht an der Hitze des Stroms, der sie antrieb. Claus Guth arbeitet hervorragend heraus, dass sie nicht mehr in ihre alte Welt gehört, in der neuen nicht ankommen darf. Etwas schade, dass sie am Ende, im Jubel der dann wie spiegelbildlich durchgezogenen Hochzeitsgesellschaft um Athamas und Ino (exzellent Nadezhda Karyazina), nichts beschönigendes zwar, nur noch eine graue, „nichtssagende“ Rolle zu spielen hatte.

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Michael Spyres (Jupiter)
© Monika Rittershaus

Selten hat ein Sänger Gelegenheit, seinen Schlaf mit so viel Verzierungen zu schmücken wie Somnus, Gott des Schlafes, es für Juno tut; Philippe Sly gab dieser Paraderolle viel Komik.

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Nadezhda Karyazina (Ino), Emily D'Angelo (Juno) und Brenda Rae (Semele)
© Monika Rittershaus

Viel barocken Glanz und melodische Überzeugungskraft entfachte Gianluca Capuano im Bayerischen Staatsorchester und seinen Instrumentalsolisten. Das Ensemble LauschWerk brachte vielstimmige Oratorienfülle ins rasante Spiel. Frenetischer Premierenapplaus für die exorbitante Ensemble-Leistung: mit diesem „Pfund“ im Spielplan kann die Staatsoper noch lange wuchern!

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