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„Parsifal“ in Bayreuth – Parsifal, eine Dekoration

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Barbie-Hippies in Klingsors Zaubergarten. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele
Barbie-Hippies in Klingsors Zaubergarten. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele © Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Jay Scheibs Bayreuther Festspielpremiere ist ein Spektakel auf dem AR-technischen Stand der Dinge. Deutung und analoge Inszenierung sind dafür von gestern und vorgestern.

Jetzt fragt man sich natürlich, ob Richard Wagner diesen „Parsifal“ gemocht hätte. Hätte er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Wer Rheintöchter auf Gerüste schnallt, damit sie im Bühnenraum schwimmen können, der wird sich für die Welt digitaler Hinzufügungen begeistern, ungeachtet selbst der Frage, wie geschmackssicher oder triftig die Illusionen sind.

Aber was hätte Wagner dazu gesagt, dass nur knapp 20 Prozent des Publikums das alles sehen können, weil die dafür erforderlichen Brillen nicht reichten? Wagner hatte den Zuschauersaal des Bayreuther Festspielhauses zwar so eingerichtet, dass die Sicht für alle ziemlich gut sein sollte, aber sein Sinn für demokratische Verhältnisse war bekanntlich flexibel. Wahrscheinlich hätte er in Aussicht gestellt, dass mehr Brillen angeschafft werden, sobald das Geld dafür reicht. So ungefähr klang es bei der Pressekonferenz zum Auftakt der Festspielsaison jetzt auch. Vielleicht gebe es 2024 mehr Brillen. Wie sich diese Pläne zu einer rasant fortschreitenden Technik verhalten, bei der dermaßen aufwendige Teile (à 1000 Dollar pro Stück, und das sind die reinen Anschaffungskosten) bald schon veraltet sein könnten, muss offen bleiben.

Regisseur und Augmented-Reality-Tüftler Jay Scheib aus den USA arbeitete darum am Ende – als klar war, mit wie wenigen Brillen zu rechnen sein würde – auf zwei Ebenen. 330 sehen eine knallbunte, vor Tieren, Blumen, Doppelgängern, Effekten berstende Welt des Videodesigners Joshua Higgason, wie sich jene anschließend erzählen lassen konnten, für die sich AR-Brillen vielleicht auch aufgrund, äh, gravierenderer Fehlsichtigkeit nicht eignen und die sich mal so richtig leidtun konnten. Die übrigen 1570 sahen eine mit etwas Video aufgepäppelte analoge Vorstellung, wie ein anständiges Stadttheater sie allemal zusammenbringt. Das vermutlich ambitionierter vorgeht. Und ohne den katastrophalen Anteil auskommt, nicht zeigen zu können, was die Regie eigentlich zeigen will. Ein Behelf ist kein interessantes Experiment, ein Behelf ist, zumal bei Festspielen, das maximale Desaster. Herrlich, wie alle versuchen, darüber hinwegzureden.

Mimi Liens Bühne ist gegenüber der virtuellen Maximalbestückung karg. Es ist aber nicht die Kargheit einer Wieland-Wagner-Entrümpelung. „Wozu brauche ich einen Baum auf der Bühne, wenn ich Astrid Varnay habe“, so der Richard-Enkel einst, als er zu seinen Bühnenbildern befragt wurde – das ist sowieso ein Satz für diesen Abend, wenn es an die Frage kommt, was wichtig ist in einer Inszenierung. Nein, die aktuelle „Parsifal“-Bühne bietet vornehmlich die Kargheit einer Verlegenheitslösung. Im ersten und dritten Akt fühlt man sich oft wie vor einer unbespielten Blue Box (um ein etwas altmodisches Wort zu verwenden): Da fehlt etwas und wird zuweilen durch Videos befüllt, die das Personal vergrößern. Oder durch Farbenspiele.

Viel modisches Rosa ist dabei, das passt hervorragend dazu, dass Klingsors Garten im zweiten Akt eine Art verruchtes Hippie-Barbie-Land sein wird. Im ersten und dritten gibt es einen Strahlenkranz, der am Boden liegt, gelegentlich glimmt und dann hochgezogen wird, wenn es zu den Gralsriten kommt, für die eine größere Zahl dann nicht verwendeter kirchlicher Gerätschaften auf die Bühne geschafft wird. Amfortas, Derek Welton mit schlankem Bassbariton, und Titurel, Tobias Kehrer mit einem warmen, freundlichen Bass, sind beide noch verblüffend gut zu Fuß. Opulent und auch in Großaufnahme aber die Wunde, die sich niemals schließt.

Außerirdisch wirkende Stelen, jammervolle Stämme und Wasserbassins gibt es ebenfalls, Projektionsflächen, aber nicht für Deutungen, sondern für Videos und bescheidene Lichteffekte. Die Gralsritter tragen vorerst mit Tupfen bemalte, irgendwie total nutzlose Uniformen, im dritten Akt wirken sie militarisierter (Kostüme Meentje Nielsen). Dann steht auch ein großes Fahrzeug da, ein funktionsloses Pappteil zwischen Baugerät und Panzer. Die Not der Gralsgemeinschaft verdeutlichen nun der schleppende Gang der Choristen und das durchgängig trübe Grau der Szene.

Die Interpretation bewegt sich am unteren Limit zur reinen Bebilderung. Ein paar Akzente gibt es. Gurnemanz lernen wir zur Ouvertüre als von Liebe Träumenden kennen, man sieht auf der Großleinwand, dass Georg Zeppenfeld ein wunderbarer Schauspieler ist, hier in einer so zarten Szene, dass sie Erwartungen weckt. Er ist der Bayreuther Publikumsliebling der Gegenwart, und man begreift wieder warum, wenn er mit seinem glasklaren, immer noch jugendlich leichten, aber ausreichend durchschlagenden Bass für jene Textverständlichkeit sorgt, von der wiederum Wagner nur träumen konnte.

Scheib schließt dann auch brav den Kreis, indem die fremde Frau als Kundry-Doppel am Ende wahrhaftig auftaucht. Auch Kundry 1, frisch getauft, überlebt den Abend, die nachher am heftigsten bejubelte Bayreuth-Debütantin Elina Garanca, die die Partie eher wunderschön als verzweifelt singt und die verschiedenartig aussieht. Unter anderem wie Cruella aus dem einschlägigen Film. Eine etwas amerikanische Lesart für eine gespaltene Persönlichkeit.

Kundry stirbt also nicht, stattdessen zerschlägt Parsifal aus der Lamäng den Gral in Tausend Stücke, ein bläuliches Glasobjekt. Ein vages Nur-die-Liebe-Zählt steht am Ende im Raum.

Die opulenteste Bebilderung für Brillenlose bietet Barbies, nein, Klingsors Zaubergarten; hier versuchen Scheib und Higgason am stärksten, die Bild- und Farbflutung ins Analoge zu übertragen, Blüten und Busen, Busen und Blüten. Für Männer gefährliches Terrain, eine gefledderte Leiche liegt auf der blutdurchtränkten Matratze, auf die auch Parsifal geworfen wird. Und auf die Klingsor rücksichtsvollerweise plumpsen darf, nachdem ihm Parsifal im läppischsten Handgemenge der jüngeren „Parsifal-Geschichte“ den Speer weggenommen hat.

Klingsor selbst, der in einem rosabeleuchteten Kabuff im Mauerwerk haust, trägt rote Damenschuhe, dazu einen glänzenden Teufelshelm im Chic bürgerlicher Fantasien von Verderbtheit. Jordan Shanahan zeigt sich als behender Darsteller und gibt seinem Zauberer eine junge, quicke, wenig düstere Stimme. In der Augmented Reality, hört man, bekommt er einen großen Totenkopf dazu. Freilich geht es um den Tod, wenn Klingsor ins Spiel kommt. Was bringt am Ende und künftig eine digitale Welt, die mehr, allerdings viel mehr, viel viel mehr von dem zeigt, das auch analog nichts Neues über die Geschichte vom reinen Toren zu erzählen weiß.

Über ihn selbst schon gar nicht. Andreas Schager ist ein naiv unmittelbarer Typus von Schauspieler und spät in die Produktion gesprungen für den krankgemeldeten Joseph Calleja. Er verkörpert unzweifelhaft einen Menschen, der nicht weiß, was er hier tut, sich aber wacker und sportiv einbringt. Er, Parsifal, kann ja auch nicht wissen, was das alles soll, die Regie hingegen sollte darüber bestens informiert sein und auch bestens darüber informieren. Stimmlich konterkariert Schager souverän die verbreitete Annahme, er sei als echter Heldentenor kein geeigneter Parsifal. Er ist zwar als echter Heldentenor kein geeigneter Parsifal, macht daraus aber etwas Nuanciertes und Vorsichtiges. Hätte die analoge Inszenierung zu diesem Zeitpunkt nicht quasi die Arbeit eingestellt, wäre die Enthüllung des Grals auf milde leuchtenden Schagerschen Befehl hin ein großer Bayreuth-Moment gewesen.

Das liegt auch an der weitgehend glücklichen musikalischen Leitung Pablo Heras-Casados, des spanischen Bayreuth-Debütanten. Es ist ein eher defensiver, die Situation sensibel erforschender „Parsifal“, mäßig, manchmal etwas gedehnt im Tempo, aber im zweiten Akt auch drängend und spannend, insgesamt fein gearbeitet und selbst das Blech nie dröhnend, sondern wie mattiert. Auffallend homogen und dezent der Chor unter Eberhard Friedrich.

Endgültig vorbei die Zeiten, als in Bayreuth nach dem ersten „Parsifal“-Akt nicht geklatscht wurde. Und als alle einfach mal die Klappe hielten, sobald das Licht ausging. Jubel danach für die Musik, Buhs nur für die Regie, aber nicht vergleichbar dem Buhsturm gegen den „Ring“ von 2022.

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