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Opern-Kritik: Bayreuther Festspiele – Parsifal

Sündenfall 2.0

(Bayreuth, 25.7.2023) Auf dem Grünen Hügel hält zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele die Augmented Reality Einzug – und liefert doch meist nur überflüssige Zeichen. Die AR verkommt im Laufe des Abends immer mehr zu visueller Geschwätzigkeit.

vonRoland H. Dippel,

Jay Scheibs Installation „Sei Siegfried!“ war im Bayreuther Festspielhaus 2021 ein Projekt mit VR (Virtual Reality), die gehypte „Parsifal“-Premiere zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele 2023 bereits AR (Augmented Reality): Der Unterschied: VR ist eine eigene virtuelle Dimension. Bei AR schiebt sich eine zusätzliche visuelle Ebene vor den physischen Raum und wird zu einer Ergänzung der Vorgänge in diesem. Für die erste Hälfte des Bühnenweihfestspiels passte es. In seinem letzten, 1882 in Bayreuth uraufgeführtem Musikdrama, wirkte Richard Wagner einen kompositorisch-klanglichen Kokon aus verschwimmenden Zeitebenen: Die Vergangenheit der Gralsgemeinschaft und ihrer Sündenfälle, die Gegenwart der Ermattung und Resignation, die Zukunftshoffnung auf Rettung und Restaurierung.

Ein nur mit Augmented Reality-Brille zu sehendes Motiv in Jay Scheibs Inszenierung des „Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen
Ein nur mit Augmented Reality-Brille zu sehendes Motiv in Jay Scheibs Inszenierung des „Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen

Musikalisch ohne den bitteren Sog zwischen suggestiver Hypnotik und quälendem Widerstand

Diese Koinzidenzen von Zeit, Drama und dessen gedehnte Entwicklungsdynamik bewirken die bis heute mysteriöse Wirkung der „langsamsten Oper“ in einer fast 450-jährigen Musiktheater-Geschichte. Aber auch AR meistert nicht das vieldeutige Ritual-Konstrukt, in dem Wagner mit dem Tod Kundrys die einzige Frauenfigur des Werks auslöscht und die fragwürdige Heilgeschichte in sehr freier Adaption von Wolframs von Eschenbach Epos „Parzival“ mit nicht weniger fragwürdiger Dynamik umpolt. Der amerikanische Digital- und Theaterschöpfer Jay Scheib entlarvt das in den 100 Minuten des ersten Aufzugs. Später aber verheddert er sich im „Parsifal“-Ideengestrüpp wie das abtrünnige „Rittergezücht“ in Klingsors Zaubergarten. Pablo Heras-Casado findet mit dem flach wirkenden Orchester keine erkennbare Haltung zum Werk. Den bitteren Sog zwischen suggestiver Hypnotik und quälendem Widerstand, welchen „Parsifal“ gemeinhin auslöst, bleibt Heras-Casado weitgehend schuldig.

Szenenbild aus „Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen
Szenenbild aus „Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen

Technisiertes Mysterium und der Eskapismus ins Ungefähre, Ungenaue, Ungewisse

Jede Penetration erzeugt Schmerz und Seelenpein. Die sich durch den Abend ziehende Botschaft verdichtet Jay Scheib mit virtuellen Beigaben zu Wagners sinnen- und sexfeindlicher Handlung. Pfeile bohren sich in den von Parsifal erlegten Schwan und schwirren mit der Spitze in die Augen jener glücklichen Zuschauer, die eine der nur 700 AR-Brillen erhielten. Die AR-Beigaben erweisen sich nach Scheibs starkem ersten Akt als meist überflüssige Zeichen. Im Vorspiel beginnt beim somnambulen Liebesakt der „Höllenrose“ Kundry mit dem Ritter Gurnemanz ein virtuelles Pflanzensprießen, Keimen, Blühen. Ohne Vereinigung oder Abspaltung ist kein neues Leben möglich. Gerade diese Vereinigung mit dem anderen Geschlecht ist den Männern der Gralsgemeinschaft verwehrt. Später kreisen Schädel im virtuellen Raum, sitzen unglückliche Paare in aseptischen Kugeln. Die digitale Potenz des AR-Designs ist hoch und gerinnt im zweiten Teil zu visueller Geschwätzigkeit. Die meisten AR-Brillen-Nutzenden legten diese immer wieder ab, um mehr Klarheit über die verschiedenen Ebenen zwischen „realem“ Bühnenhauptgang und virtuellen Sättigungsbeilagen zu erhalten. Hinter der Spielfläche ergänzt ein eisiger Screen das Geschehen. Die Übertragungen verdoppeln im dritten Akt sogar, was die Wasseroberfläche im Becken reflektiert. Das ist kongenial zu Wagners musikdramatischen Schichtungen und ermöglicht Scheibs sparsamer Personenregie den Eskapismus ins Ungefähre, Ungenaue, Ungewisse.

Szenenbild aus „Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen
Szenenbild aus „Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen

Blutopfer

Es wird mit böser Drastik deutlich. Wer der sinnlichen Minne Macht entsagt, braucht Ersatz. Die zölibatären Gralsritter kommen durch die Berührung und das Verzehren des Blutes aus der Seitenwunde des siechen Königs Amfortas zu Kräften. Fast erotisch mutet ihre brüderliche Umarmung nach dem Ritual an. Aber geschlechtliche Vereinigung ist verdammenswert. Das zeigt Scheib nicht als dumpf-dunkle Messe religiöser Fundamentalisten, sondern in digitalen Frühlingsfarben: Zitronenblond die Haare der Blumenmädchen wie die Röcke der Gralsritter. Schwarz-Weiß meint immer Yin und Yang. Einzelne große oder viele kleine rote Punkte auf der Kleidung sind Stigmata der Sünde. Meentje Nielsens Kostüme bekennen ein bisschen Devotion zu Achim Freyer und hohe Affinität zu RTL-Shows. So dürfen Scheibs Blumenmädchen in die Kamera strahlen und mit Kirschlippen locken.

Szenenbild aus „Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen
Szenenbild aus „Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen

Eucharistische Schwermut und die Todsünde der erotischen Lockung sind in Scheibs martialischem Konzept noch massiver als in Wagners hybrider Liturgie. Doch am Ende bricht Scheib aus: Parsifal lässt den Gral in tausend Stücke zerspringen. Das Blutritual verliert Anlass und Sinn, die erotische Annäherung zwischen Menschen wird ohne Verwerfungen möglich. In Mimi Liens synthetischem Raum – weiteres Gralssymbol ist ein sich senkendes Lichtrad mit Neonstäben – scheint die echte Natur überwunden, gewinnt Fleischeslust eine rebellische Dynamik.

Szenenbild aus „Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen
Szenenbild aus „Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen

Visuelle Inflation

Scheibs Figuren wissen oft nichts von sich und ihrer Last drückender Dogmen. So wird die Polarisierung von sexueller Schuld und blutiger Sühne plausibel wie furchteinflößend. Ein sekundärer Konzeptschwall bebildert den Rohstoffgewinn zur Herstellung von Smartphones und Kommunikationsgeräten. Visuelle Inflation und sinnenfeindliche, aber hygienische Archaik fusionieren zu Wagner-Klängen.

Szenenbild aus „Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen
Szenenbild aus „Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen

Stars: Andreas Schager und Georg Zeppenfeld

Auf der Bühne steigern sich Andreas Schager, der die Partie erst vor zwei Wochen für den erkrankten Joseph Calleja übernommen hat, und Georg Zeppenfeld zu den eindrücklichsten Gesangsleistungen. Schager opponiert gegen den Watte-Sound des unsichtbaren Orchesters. Zeppenfeld macht diesen vergessen mit einer in Bayreuth sich merklich verlierenden Kultur der Diktion und Erschließung der Inhalte. Derek Welton klang schon kultivierter als an diesem Premierenabend, Jordan Shanahan als sein Gegner Klingsor hatte wenig Leidensdruck. Insgesamt wirkte das Orchester leichter und langsamer, als der Abend tatsächlich war. Nur selten konnte sich die Musik eigenständig profilieren. Man sah die Nöte der Ritterschaft, hörte sie auch vom fulminanten Chor, aber nicht aus dem Orchestergraben. So hatte Elīna Garanča bei ihrem Bayreuthdebüt als Kundry gute Karten: Sie war die kantabelste und bei von Wagner gefordertem Schreien, Ächzen, Stöhnen am meisten haushaltende Kundry seit langem. Gleißende Wortfolgen oder andere Mittel, um die schillernde Partie mit hier legitimen Effekten zu füllen, setzte Elīna Garanča nicht ein. Scheib sieht für die Ausnahmefigur kein erlösendes Sterben vor, sondern die Vereinigung mit Parsifal. Die musikalische Ausgestaltung und die durch VR erreichte Distanzierung rückten die fiebrige Getriebenheit des zweiten Akts in fast behagliche Ferne. Die Nebenpartien waren angemessen und mit verhältnismäßig großen Stimmen besetzt. Begeisterung für die musikalische Wiedergabe und eine Buhsalve für das Regieteam beendeten die Premiere. Dieser Applaus hatte jene Kraft und Anstrengung, welche man auf musikalischer Seite über weite Strecken vermisste.

Bayreuther Festspiele
Wagner: Parsifal

Pablo Heras-Casado (Musikalische Leitung), Jay Scheib (Regie), Mimi Lien (Bühne), Meentje Nielsen (Kostüme), Rainer Casper (Licht), Joshua Higgason (Video), Marlene Schleicher (Dramaturgie), Eberhard Friedrich (Chorleitung), Derek Welton, Tobias Kehrer, Georg Zeppenfeld, Andreas Schager, Jordan Shanahan, Elīna Garanča, Siyabonga Maqungo, Jens-Erik Aasbø, Betsy Horne, Margaret Plummer, Jorge Rodríguez-Norton, Garrie Davislim, Evelin Novak, Camille Schnoor, Margaret Plummer, Julia Grüter, Betsy Horne, Marie Henriette Reinhold, Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele

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