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Le nozze di Figaro 2023: Adriana González (La Contessa di Almaviva), Sabine Devieilhe (Susanna), Lea Desandre (Cherubino).  Foto: © SF/Matthias Horn

Le nozze di Figaro 2023: Adriana González (La Contessa di Almaviva), Sabine Devieilhe (Susanna), Lea Desandre (Cherubino). Foto: © SF/Matthias Horn

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Sexuelle Beschleunigung: Mozarts „Figaro“ bei den Salzburger Festspielen

Vorspann / Teaser

Mozarts Opera buffa von 1786 ist eine der meistgespielten Opernkomödien bei den Salzburger Festspielen und überall. Als deren erste Musiktheater-Premiere entwirft Martin Kušej in „Le nozze di Figaro“ ein eisiges Sittenbild der Gegenwart, Raphaël Pichon und die Wiener Philharmoniker bestätigen im Haus für Mozart mit kühler Souveränität.

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Die Bürger tun es bei Beaumarchais, Lorenzo da Ponte und Wolfgang Amadeus Mozart im komödiantischen Sittenbild „Le nozze di Figaro“ an Triebhaftigkeit dem Adel gleich. Diese Vision einer binär-permissiven Gesellschaft aus dem späten 18. Jahrhundert passt wie die Faust auf’s Auge zur Moraltopographie westlicher Zivilnationen im 21. Jahrhundert. Martin Kušej setzt das für die erste Premiere der Salzburger Sommerfestspiele 2023 in prosaische und nüchterne Bilder. In den deutschen Übertiteln duzen sich Herrschaft und Hausangestellte.

Es gibt zwar Andeutungen einiger schöner Orte auf der Bühne des Hauses für Mozart. Aber oft und sicher zu oft wechseln die Schauplätze in Raimund Orfeo Voigts Bühne. Eine hohe Kammer, in der schwarze Müllsäcke vom Bühnenhimmel fallen, eine weiße Kachelwand mit trister Badewanne …wohnliche Accessoires als Ambiente gepflegter Umgangsformen gibt es weitaus seltener und diese sind ebenso leer, bieten Platz für Paarungsgymnastik und die kurze Erschöpfung danach, die nur bis zur nächsten Triebhaftigkeit dauert. Richtig zufrieden und froh ist dort eigentlich niemand. Alan Hraniteljs Kostüme sehen nach größerem Geldbeutel aus und wirken dabei flach wie das gesellschaftliche Ambiente. Der nächtliche Park ist ein verwilderndes Bodenstück mit Schilf und Sand, dahinter eine Betonmauer. Die Oper endet mit Auflösung, aber ohne Erlösung. An den Schluss könnte die motorische Ouvertüre sofort wieder anschließen …Verletzung und Verzeihen in Endlosschleife.

Meine Platznachbarin sagt in der Pause: „Ich will verzaubert werden.“ – Um diese Verzauberung doch noch über Kusejs trübes Sittenbild zu legen, hat man ihn für diese Produktion mit dem Raphaël Pichon verbandelt. Der französische Barock-Spezialist steht vor den Wiener Philharmonikern, die neben der Flut von historisch ambitionierten Lesarten ihre Vorrangstellung als Mozart-Exzellenzorchester problemlos verteidigt haben. Besonderheit dieser Produktion: Die Szenenwechsel erhielten durch das aufgeblasene Rumpel-Sounddesign des in der Besetzung beim Produktionsteam gelisteten Max Pappenheim eine fundamentale Bedeutung. Kongenial dagegen gelingt der freie Umgang mit den Rezitativen. Heißes Tempo, aber kalte Musik. Trotz ihres himmlisch schönen Streichertons und der klanglichen Verblendungen aller Instrumente-Gruppen wirkt Mozart diesmal gläsern und perforiert.

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Le nozze di Figaro 2023: Andrè Schuen (Il Conte di Almaviva), Sabine Devieilhe (Susanna), Adriana González (La Contessa di Almaviva). Foto: © SF/Matthias Horn

Le nozze di Figaro 2023: Andrè Schuen (Il Conte di Almaviva), Sabine Devieilhe (Susanna), Adriana González (La Contessa di Almaviva).
Foto: © SF/Matthias Horn

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Pichon will zwischen den Figuren „Elektrizität“, aber vor allem funktionieren die Kühlaggregate und eine atmosphärische Air-Condition. Statt bei Sevilla spielt die zum dokumentarischen Sittenbild verschmälerte Komödie in gemäßigten Breiten, wo sich der Klimawandel noch nicht sonderlich stark bemerkbar macht. Mozarts mit genialen Satztechniken vorantreibender Drive wird zwar zu elektrisierender Feinmotorik, malt aber keine Seelenabgründe oder Blessuren.

Die Frauen sind mit hellen, sogar in unteren Dynamikbereichen nachdrücklichen Stimmen besetzt. Adriana González opponiert als Gräfin Almaviva mit herzerweichender Innigkeit. Sabine Devieilhe als Susanna ist wendig und hat in neben Höhen-Weichheit auch Resolutheit, Serafina Starke ist fast eine Überbesetzung für Barbarina, deren Cavatina von der verlorenen Nadel als Klage um den Verlust ihre Hymens auch zur unausrottbaren Fessel an Moralkonventionen für Mozart wurde.

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Le nozze di Figaro 2023: Andrè Schuen (Il Conte di Almaviva), Sabine Devieilhe (Susanna). Foto: © SF/Matthias Horn

Le nozze di Figaro 2023: Andrè Schuen (Il Conte di Almaviva), Sabine Devieilhe (Susanna).
Foto: © SF/Matthias Horn

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Herr Almaviva und sein Diener Figaro sind hier gar nicht so unterschiedlich. Kušej führt Andrè Schuen nicht nur mit Mozarts Frauenfiguren zusammen, sondern auch anderen sportlichen wie flüchtigen Hautkontakten zu. Er und Krzysztof Bączyk in der Titelpartie zeigen, dass Mann jetzt ohne soziale Softskills wie Aufmerksamkeit, Sanftheit und Sensibilität ans Ziel gerät. Beide haben kernig-kerliges Material auch in Piano-Bereichen. Schaumbäder von den Bariton-Stimmen gibt es nicht. Wer nicht gerade balzt, zieht Colts – oder man zielt mit der Kamera nach Motiven wie der ebenfalls nicht gerade sonore Peter Kálmán als Bartolo.

Ein besonders steiler Zahn ist die androgyne Lea Desandre als leicht dunkle und dabei sopranig klingender Cherubino. In der sexuellen Dauercoolness bleibt die Pagenfigur Projektionsfläche zum Glücksversprechen, gerade in Kusejs eiskaltem Treibhaus. Kristina Hammarström gibt eine sehr jugendliche und sehr initiative Marcellina. Manuel Günther in der stark zusammengestrichenen Partie des Basilio, Andrew Morstein als zum Barkeeper mutierter Don Curzio und Rafał Pawnuk als Antonio füllen ihre Aufgaben bestens aus.

Die szenisch präsente Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor (einstudiert von Jörn Hinnerk Andresen) und die bewegte Statisterie-Meute machen nicht den Eindruck, als ob sich an diesem Panorama am Ende der Geschichte schnell etwas ändern würde. Das Verzeihen und die Nachsicht der Frauen an den Eskapaden aller übertüncht das Vorausgegangene nicht. Selten war es während einer „Figaro“-Vorstellung so still wie in dieser Premiere. Erst beim Fallen der Müllsäcke reagierte Publikum etwas geräuschvoller – und lachte lautstark beim verbitterten Ausfall der Gräfin gegen männliche Eifersucht und deren Wurzeln in Besitzanspruch und Egoismus. Was für ein tieftrauriger Abend.

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