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Eine düstere Feiergesellschaft.

Mitverantwortlich für eine grandiose Premiere: Mandla Mndebele, Denis Velev, Rinnat Moriah und Morgan Moody. © Björn Hickmann

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„La Bohème“ in Dortmund liefert Vorfreude auf die Doppelveranstaltung mit „RENT“

Vorspann / Teaser

Gil Mehmert hat zwar bereits diverse Opern inszeniert, sein Schwerpunkt liegt aber seit vielen Jahren auf dem Musical. So brachte er in Dortmund 2016 bereits Andrew Lloyd Webbers „Sunset Boulevard“ auf die Bühne, zwei Jahre später dann Leonard Bernsteins „West Side Story“ – erfolgreiche Produktionen, die sehr gut ankamen! Jetzt macht er in der Ruhrmetropole erneut große Oper!

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Graues Zinkblech, leicht verkommene Dachfenster und überall qualmende Schornsteine – die Aussicht über Paris, die Stadt der Liebe, ist alles andere als hübsch oder gar romantisch! Aber sie spiegelt ziemlich genau die Lebensumstände von Marcello und Schaunard, von Rodolfo und Colline, jenen vier Bohèmiens, die auf dem Dach irgend eines Hauses auf dem Montmartre ganz freiwillig ihr Dasein fristen. „Klassische“ Aussteiger, denen es um nichts geht als ihre Kunst: Malerei, Philosophie, Musik und Dichtkunst. Ein kärgliches Leben von der Hand in den Mund. Man kann aber nicht sagen, sie seien damit unzufrieden oder litten darunter. Nein, in der Oper Dortmund kommen sie eher wie bunte Vögel daher, die in schrillen Klamotten stecken. Es ist Weihnachten und die Stimmung locker und entspannt. Die Haushaltskasse der WG erlaubt sogar einen feiertäglichen Ausflug ins Quartier Latin! Rodolfo, der Dichter, will noch einen Moment im gläsernen Verschlag auf dem Dach verweilen und sich seinen Kumpanen erst später anschließen. Doch dann klopft es an der Tür – und Puccinis Drama „La Bohème“ nimmt seinen Lauf. Lucia tritt in Rodolfos Leben, die Nachbarin, die selbst nicht weiß, weshalb sie von allen nur „Mimì“ genannt wird.

Regisseur Gil Mehmert erzählt die tragische und traurige Geschichte, mit der er sein Publikum im Dortmunder Opernhaus – am Premierenabend rappelvoll! – zu Tränen rührt. Mehmert unterstreicht, was in Puccinis Musik angelegt ist: große Emotionen, Empathie mit den Protagonisten, auch die Lust am freien Leben jenseits bürgerlicher Zwänge. Doch allgegenwärtig ist der Tod! Ein dürres Skelett steht hinten links in der Ecke des spärlich ausgestatteten Verhaus auf dem Dach, gleichsam als „Vanitas“-Signal: Alles auf der Welt ist eitel, nichtig. Marcello muss diese Weisheit aktuell durchleben, hat sich seine Beziehung zu der mondänen Musetta doch gerade eben erst in Luft aufgelöst. Und auch das anfängliche Liebesfeuer zwischen Rodolfo und Mimì ist inzwischen so gut wie verglommen. Bis zu jenem Tag im zart aufkeimenden Frühling. Die Dachbegrünung in Form wuchtiger verwelkter Topfpflanzen entwickelt gerade frische Triebe, als Musetta aufgeregt von Mimì berichtet, wie sie sich kraftlos die Treppen hinaufquält. Schnell wird allen außer Rodolfo klar: sie ist krank und kämpft gegen den Tod. Ohne Aussicht darauf, ihn zu gewinnen. Und so stirbt sie auch ganz erbärmlich in jener Badewanne, in der Rodolfo so lange gelegen hat und dort seiner Dichterei frönte. Er ist völlig verzweifelt und die Medikamente gegen Mimìs Krankheit kommen ebenso zu spät wie der herbeigerufene Arzt. Ein Leben ohne Mimì? Unvorstellbar! Rodolfo steigt auf das Dach über Paris, schaut in die Tiefe. Ob er sich hinabstürzt? Dies lässt Gil Mehmert offen, denn vor dem möglichen Sprung schließt sich unter dem breiten Klang des Orchesters der Vorhang.

Es ist ein klar und geradlinig gearbeitetes Rührstück, das Mehmert in Dortmund auf die Bühne bringt. Handwerklich ohn‘ Fehl und Tadel. Mit optisch wirkungsvollen, ja schönen Bildern wie dem vom Treiben auf dem weihnachtlichen Markt im Quartier Latin. Auch mit nachdenklichen Augenblicken im Haus des Theaters „Cabaret Le Combat“, wo Marcello und Musetta noch einmal zusammen kommen. Ein Spannungsfeld zwischen Vergnügen und Vergänglichkeit. Diesen Bogen schlägt auch die Musik: Im Orchestergraben erzeugen Gabriel Feltz und die Dortmunder Philharmoniker Quirligkeit ebenso wie Tristesse, auf der Bühne wird grandios gesungen – ein Pfund, mit dem diese Inszenierung vor allem wuchern kann. Sungho Kim, seit der Spielzeit 2020/2021 Ensemblemitglied in Dortmund, ist als Rodolfo geradezu eine Idealbesetzung, schauspielerisch wie sängerisch! Sein Tenor funkelt, erklimmt völlig mühelos jede Höhe, hat Energie bis zum bitteren Ende, verfügt über alle wünschenswerten Farben – ganz toll! Anna Sohn gibt die etwas schüchterne Mimì, lässt gleich zu Beginn in „Mi chiamano Mimì“ vokal die Frühlingssonne ganz und gar aufgehen, entwickelt glaubwürdig ihren Weg bis zum Tod.

Auch alle übrigen Rollen sind bestens besetzt: Rinnat Moriah ist die selbstbewusste, gleichwohl nach Liebe sich sehnende Musetta; Mandla Mndebele ein kraftvoller Marcello, Morgan Moody und Denis Velev die munteren und spielfreudigen Künstlerfreunde. Nicht zuletzt sorgen Opernchor, OpernKinderchor und Knabenchor der Chorakademie Dortmund Großartiges, vor allem beim lebhaften Treiben rundherum um die Weihnachtsbäume in den Pariser Straßen vor dem „Café Momus“.

Fazit: sprechende Bilder, einfühlsame Musik auf hohem Niveau! In Dortmund darf man indes gespannt sein, denn Mehmert zeichnet hier auch verantwortlich für das Musical „RENT“ von Jonathan Larson, das nur drei Wochen nach der „Bohème“-Premiere in der Ruhrmetropole vorgestellt wird: eine geschickte, intelligente Programmplanung, denn der Stoff orientiert sich inhaltlich an nichts anderem als an Puccini, verlegt in das New York der 1990er Jahre, wo sich – wie einst in Paris – (Lebens-)Künstler tummeln. Natürlich unter veränderten Vorzeichen: AIDS spielt eine Rolle, auch Homophobie, Rassismus und drohende Obdachlosigkeit. Eine „Bohème“ für das 20. und 21. Jahrhundert?

Weitere Termine: 24. und 27. 9.; 1., 6., 14., 15.*, 19. und 24. 10., weitere Vorstellung folgen.

*Für den 15. Oktober und 10. Dezember ist eine Doppelvorstellung terminiert: „La Bohème“ und „RENT“ an einem Tag.

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