Berlin. Kratzer hat im Flughafen Tempelhof Henzes Oratorium „Das Floß der Medusa“ inszeniert. Das Ensemble der Komischen Oper wurde gefeiert.

Es ist eine grandiose Musiktheater-Produktion, die in die Annalen der Komischen Oper eingehen wird. Mit Hans Werner Henzes „Das Floß der Medusa“ eröffnete das Opernensemble, dessen Haupthaus in Mitte einer Generalsanierung unterzogen wird, am Sonnabend seinen Satelliten-Standort im Hangar 1 des Flughafens Tempelhof. Es ist ein imposanter Veranstaltungsort mit einem riesigen Wasserbecken in der Mitte. Auf den Tribünen links und rechts versammeln sich, so heißt es, die Lebenden und die Toten. Zunächst nehmen dort die 1400 Ticketbesitzer erwartungsvoll und ahnungslos ihre Plätze ein. An Platz 30 in Reihe 6 auf der „Toten“-Tribüne 2 schlurfen an dem Abend regelmäßig nasse Gestalten vorbei, denn der mitspielende Chor sitzt im Publikum.

Vor Beginn machen viele Besucher noch einen Handy-Schnappschuss am Wasserbecken. Wie ein Tableau vivant ist das Gemälde „Das Floß der Medusa“ des französischen Romantikers Théodore Géricault von 1819 nachgestellt. Henzes Oratorium und auch Tobias Kratzers Inszenierung knüpfen an den Geist des Gemäldes an. Womit bereits klargestellt ist, dass die Überlebenden des Rettungsfloßes hier in heldenhafter Würde dargestellt sein werden. Mord, Blut und Kannibalismus finden in der Darstellung keinen Raum. Der Regisseur will vor allem den Seelen der ums Überleben Kämpfenden nachspüren. Es hat viel Poetisches.

In den 85 Minuten Aufführungsdauer wird die koloniale Tragödie erzählt

Zunächst aber wird in den 85 Minuten Aufführungsdauer wie in einem Tagebuch die koloniale Tragödie erzählt. Am 17. Juni 1816 verlassen vier Schiffe Frankreich, um Ländereien in Senegal in Besitz zu nehmen. 300 Personen sind an Bord der Fregatte „Medusa“. Zwischendurch findet im Hangar 1 eine fröhliche, Glück verheißende Badeszene statt. Aber am 2. Juli läuft das Flaggschiff auf ein Riff. Vier Tage später rettet sich die Obrigkeit in die Rettungsboote, für die restlichen 154 Personen wird ein Floß zusammen gezimmert. Es ist eine der atemberaubenden Szenen an diesem Abend, wie die Massen durchs spritzende Wasser auf das kleine Floß zustürzen. Der Überlebenskampf beginnt.

Erzählerin Iduna Münch umrudert als Charon im roten Schlauchboot das Rettungsfloß der Medusa.
Erzählerin Iduna Münch umrudert als Charon im roten Schlauchboot das Rettungsfloß der Medusa. © dpa | Carla Benkö

Und das Sterben. Als vor Mitternacht die beiden kleinen Schiffsjungen Chico und Pierre singend ihrem Tod entgegen waten, ist man sofort berührt. Das Wasserbecken (Bühnenbild: Rainer Sellmaier) wird bei Kratzer zum Meer und zugleich zum mythischen Fluss, über den der Fährmann die Lebenden ins Reich der Toten bringt. Charon ist in dieser Inszenierung eine Fährfrau, Idunnu Münch rudert als wichtige Erzählerin in einem kleinen roten Schlauchboot in roter Rettungsweste um das Floß herum. Natürlich kommen einem sofort Bilder von Lampedusa in den Sinn. Aber der Regisseur meidet ansonsten konkrete Anspielungen. Und leider auch alles Gesellschaftspolitische, was im Lehrstück des Salonlinken Henze niedergeschrieben ist. Henze widmete sein Werk Che Guevara. Im Hangar 1 ist weder die menschenverachtende Obrigkeit, die schnell die Seile zum Rettungsfloß kappte, noch ein revolutionäres Aufbegehren zu spüren.

Dabei gehört Henzes Oratorium zu den großen Skandalen der Musikgeschichte. Die Uraufführung 1968 in Hamburg scheiterte, weil – um die Verwicklungen zusammenzufassen – sich die verschiedenen linken Strömungen wieder einmal gegenseitig befehdeten. Die Polizei sagte die Uraufführung ab, man ging bedröppelt nach Hause. Aber dieser politischen Geschichte will der Starregisseur ausweichen, er hat eine völlig andere Metapher im Blick. Er fragt danach, was mit den Menschen beziehungsweise der Menschheit geschieht, wenn die Ressourcen wie auf dem Rettungsfloß knapp werden?

Im Wasserbecken findet ein Tanz der Lebenden mit den Toten statt

Es wird ein Tanz der Lebenden mit den Toten. Im Wasserbecken wird er irgendwann von zwei Hauptfiguren vollzogen. Sopranistin Gloria Rehm ist eine verführerische La Mort, eine Sirene, die die Lebenden in Versuchung führen soll. Günter Papendell setzt seine baritonale Kraft wirkungsvoll ein, um als Matrose Jean-Charles die Lebenden auf dem Floß beisammen zu halten. Mit einem roten Stofffetzen in der Hand hofft er auf die Retter. Aber Wahnvorstellungen beginnen. Kratzer lässt eine Jesus-Figur über das Wasser wandern und Nebel bedrohlich durch den Raum wallen. Man fühlt sich als Publikum an diesem Abend mittendrin.

Es ist eine für ein Opernensemble rundum gigantische Produktion. Neben den drei Hauptdarstellern agieren im und am Becken 83 Choristen, über 40 Statisten und 20 Sänger aus dem Knabenchor. Die 82 Musiker des Orchesters der Komischen Oper steuern unter Leitung von Titus Engel die klangmächtig-intensive Musik von Henze bei. Bläser und Schlagwerk sind überpräsent, Feinheiten sind in diesem halligen Hangar kaum umsetzbar. Umso eindrucksvoller ist der Raumklang.

Ganz am Ende erklingt dann doch, wenngleich hier sehr verhalten im Orchester grundiert, der von Henze auskomponierte 68er-Demo-Schlachtruf „Ho-Ho-Ho Chi Minh“ auf. Die Fährfrau verkündet: „Die Überlebenden aber kehrten in die Welt zurück, belehrt von der Wirklichkeit, fiebernd, sie umzustürzen.“ Kratzer lässt die große Hangar-Tür öffnen, die Bühnenwelt geht in die Realität über. Ein Flughafen-Lotsenfahrzeug mit der Leuchtschrift „Follow me“ führt die Überlebenden hinaus. Ja, wohin? In die schwarze Nacht, in den Kosmos, in die angrenzende Flüchtlingsunterkunft? Große Kunst beginnt dort, wo jeder die Wahrheit erfühlen muss. Das Publikum jubelt.