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Kultur Oper im Flughafen

Das Floß der Medusa treibt jetzt durch Tempelhof

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Rette sich, wer kann: Henzes „Medusa“ in Berlin Rette sich, wer kann: Henzes „Medusa“ in Berlin
Rette sich, wer kann: Henzes „Medusa“ in Berlin
Quelle: Jaro Suffner
240.000 Liter Wasser, 83 Chorsänger, 40 Statisten, drei Solisten und ein furchtloser Dirigent: Tobias Kratzer inszeniert im Tempelhofer Flughafen Hans Werner Henzes politisches Oratorium „Das Floß der Medusa“. Die Dimensionen sind gewaltig. Und das wird zum Problem.

Flughafen Berlin-Tempelhof, Hangar 1: 1400 Zuschauer auf zwei gegenüberliegenden Tribünen. Dazwischen 240.000 Liter Wasser in einem 24 mal 22 Meter großen, 50 Zentimeter tiefen Wasserbecken. Auf einem Schwimmbrett und drumherum im Nass 83 Chorsänger, 40 Statisten, drei Solisten. An einer Schmalseite 82 Musiker und ein furchtloser Dirigent.

Wer in Berlin etwas neu macht, der muss damit laut und vernehmlich klotzen. Ob es nun zur Art Week das neue Pseudomuseum Fotografiska im luxussanierten „Am Tacheles“-Quartier ist oder parallel dazu die für die kommenden (mindestens) fünf Jahre wegen Stammhausumbau ausquartierte Komische Oper, die neben dem Schiller Theater diverse Stadtorte erobern und bespielen will. Und sich gleich zu Anfang als architektonische Ouvertüre den seit 16 Jahren obszön funktionslos herumstehenden Tempelhofer Flughafen erobert.

Was Simon Rattle und den Berliner Philharmoniker 2008 mit dem Stockhausen-Klanghappening „Gruppen“ wie 2017 dem wenige Monate später schon abgehakten Volksbühnen-Crasher Chris Dercon mit Boris Charmatz „Fous de danse“ recht war, ist jetzt dem Intendantenduo Susanne Moser und Philip Bröcking billig: Ein Event musste her. Nichts funktioniert in Berlin besser. Auch wenn man weitgehend mit den Augen hört. Wobei: So schlecht ist die natürlich verstärkte Akustik gar nicht.

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Man hat sich ein legendäres, auch legendär sperriges Werk vorgenommen: Hans Werner Henze kommunistisch unterfüttertes Agit-Prop-Oratorium „Das Floß der Medusa“, berühmt geworden durch die wegen politischer Wirren unter den Mitwirkenden furios geplatzte Hamburger Uraufführung 1998.

Eben ist das auf CD neu erschienen, in einer furios spannungsreichen Capriccio-Einspielung unter Cornelius Meister mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien, dem Arnold Schoenberg Chor, den Wiener Sängerknaben und den Gesangssolisten Sarah Wegner als La Mort und Dietrich Henschel als Jean-Charles sowie mit dem schnarrigen Sven-Eric Bechtholf als Sprecher Charon. Und auch im akustischen Nirwana stellt sich die Faszination für Henzes nur 75 Minuten langes „Oratorio volgare e militare“ sofort wieder ein.

Ein Werk des souveränen, legendär kämpferischen Klangprotests, das alle Musizierkräfte bündelt. Henze verarbeitete den Untergang der französischen Militärfregatte „Medusa“ auf der Fahrt in den Senegal im Jahr 1816. Die reichen Passagiere bekamen Rettungsboote. 154 Angehörige des niederen Volks mussten auf einem selbst gebauten Floß ausharren, wo schnell – bis hin zum Kannibalismus – der Mensch des Menschen Wolf wurde. Nur 15 der Floßfahrer überstanden das Inferno.

Schillernd dichte Partitur

Als das Ereignis drei Jahre später von Théodore Géricault in ein Großgemälde verwandelt wurde, ging in Frankreich der Diskurs los, was aus den Idealen der Revolution geworden sei. Ähnlich stritt man in den Post-68er-Jahren über Henzes Che Guevara gewidmetes Musikmanifest, Studentenrevolte und außerparlamentarische Opposition. Das fügt sich – längst natürlich jenseits des damaligen Zeitgeistes – nach wie vor mit eminent musikdramaturgischen Mitteln zum stimmig-faszinierenden, skulpturenhaft tönenden Ganzen.

Auch wenn es beim Generalprobenbesuch im Hangar etwas hohl klingt, Titus Engel dirigiert Orchester wie Chor der Komischen Oper mit schneidender Präzision, unnachgiebig rhythmischem Drive und weitem dynamischem Spannungsbogen. So holt er den letzten dramatischen Wassertropfen und den feinsten Farbspritzer aus der schillernd dichten Partitur heraus, die mit ihrem kantigen Trotz wie melancholischer Resignation keine Spur alt geworden ist.

Als Bespieler des Wasserbassins verlässt sich die Komische Oper neuerlich auf Tobias Kratzer und seinen Ausstatter Rainer Sellmaier. Kratzer kann Massenchoreografien und große Oper wie gegenwärtig nur wenige Musiktheaterregisseure. Doch hier hat ihn die Wucht des Ortes allzu schnell in die Realismusfalle laufen lassen, aus der er nicht mehr herauskommt.

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Schon beim Platzsuchen schwimmt das arg requisitenhafte Floß (in der Weite des Raums eher ein Holzklötzchen) mit seiner nach Géricault choreografierten Restbesatzung im Nass. Zunächst rümpft man über das Whitewashing (der sein rotes Tuch hebende Jean Charles des sublimen Günter Papendell ist nämlich keineswegs schwarz) die woke Nase; aber dafür ist es die pastos skandierende Idunnu Münch als Charon.

2018 gestaltete der italienische Installationskünstler Romeo Castellucci an der Dutch National Opera in Amsterdam „Das Floß der Medusa“ weder als abstrakten Realismus noch als trikolorengefärbte Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit-Parabel. Er entrückte das sowieso schon stilisierende Geschehen mit Videos, trennte klar zwischen den deutsch singenden Überlebenden und den italienisch Dante intonierenden Gestorbenen.

1400 Zuschauer, 22 Meter großes Bassin: Henze im Hangar
1400 Zuschauer, 22 Meter großes Bassin: Henze im Hangar
Quelle: Jaro Suffner

Im Berliner Hangar 1 sind wir in einem deutlichen Heute, alle bleiben gefangen auf einem Boot und in einem Becken. Da gibt es zwischendurch Adria-Feeling mit Gummienten und Luftmatratzen in kreischiger Badekleidung, das Floß kann auch in Planken zerlegt werden, auf die man übers Wasser geht, sogar ein Jesus latscht vorbei. Zwei Schiffsjungen gehen als erste über Bord, singen dann aus dem Irgendwo, so wie die nach und nach über die Tribünen entschwindenden Toten.

Es gibt Kunstnebel und grelles Glühbirnenhimmelslicht, aber irgendwie sind das alles nur Theaterersatzspielmittel, die sich allzu oft wiederholen. Genauso wie die Auftritte der meist am Beckenrand trippelnden, als sinistre Diseuse im schwarzen Glitzerkleid mit schillernd schönen Kantilenen verführerisch agierenden Gloria Rehm alias La Mort.

Man wird nicht ergriffen, bleibt auf respektvoller Schau-Distanz. Zumal am Ende, völlig erwartbar, das große Hangartor zum Flugfeld sich öffnet und die überlebenden 15 in die Berliner Nacht schreiten. Während hinten am Horizont die weißen Zelte des echten Flüchtlingslagers leuchten. Die Kunst wollte nicht Wirklichkeit abbilden, aber trotz des großen Aufwands war sie diesmal zu wenig artifiziell.

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