Noch bevor sich der Vorhang hebt wird der Zuschauer zu den Klängen der Ouvertüre Zeuge eines Genozid. Auf einer Videoleinwand wird ein dürstendes Volk in die Wüste getrieben, dazu werden Details zum Völkermord an den Armeniern von 1915 einsilbig skizziert. Vier blasse Frauen mit Kopftuch, wohl welche der wenigen Überlebenden der hier angedeuteten Katastrophe, werden die nächsten Stunden im Hintergrund versuchen, die amorphen Überreste ohne Gesicht und Namen in Würde zu Grabe zu tragen.

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John Osborn (Polyeucte)
© Werner Kmetitsch

Ganz offensichtlich möchte Cezary Tomaszewski in dieser Inszenierung von Gaetano Donizettis Les Martyrs am MusikTheater an der Wien politische Akzente setzen. Das gelingt ihm nicht nur vortrefflich sondern steht auch in der Tradition des Werkes. Bereits Donizetti selbst kämpfte in Italien bei der Veröffentlichung mit der Zensur. Die ursprünglich unter dem Namen Poliuto komponierte Oper sollte zu seinen Lebzeiten nie aufgeführt werden. Zu kritisch sah der König die Darstellung von Heiligen auf der Bühne. Bloß gut, so ließe sich still hinzufügen, dass Tomaszewski heute nicht die Einwilligung des türkischen oder aserbaidschanischen Botschafters für die Interpretation dieser Grand opéra benötigte.

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Roberta Mantegna (Pauline)
© Werner Kmetitsch

Oper ist, soll und darf politisch sein. Aber mehr noch, sie soll vor allem nicht langweilig sein. Und ein zeitgenössischer Blick auf das Libretto lässt hier große Zweifel aufbringen. Im Grunde ist es ein langatmiges christliches Verwirrspiel mit denkbar tragischem Ende – ein beliebter Topos von barocken Romanen und Stücken, die hier als Vorlage dienten. Glücklicherweise braucht Donezetti nicht 7000 Seiten, wie etwa die Römische Octavia, um zum Punkt zu kommen. Dennoch dürfen berechtigte Zweifel daran gehegt werden, ob die Handlung rund um Polyeuctes und Paulines Bekehrung zum Christentum, geheime Stelldicheine in den Katakomben, die Rückkehr eines todgeglaubte Prokonsuls, und die Christenverfolgung im antiken Armenien noch unbedingt den Nerv der Zeit treffen kann.

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David Steffens (Félix) und Roberta Mantegna (Pauline)
© Werner Kmetitsch

Im großen Kontrast zur schwer verdaulichen Einleitung präsentiert sich so der Rest der rondellartigen Bühne, ja im Grunde das gesamte Ensemble, bunt und schrill. Die obligatorische Balletteinlage wird zum Zitat aus der New Yorker Ballroom-Szene und genderkonforme Kleidung steht auch nicht auf der Tagesordnung. Das führt zu verklemmten Buh-Rufen aus den hinteren Reihen (die jedoch von zahlreichen Bravissimi überstimmt werden), aber illustriert eigentlich die intelligente und durchweg aufmerksame Vielschichtigkeit dieser Inszenierung.

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Balletteinlage
© Werner Kmetitsch

Gezeigt wird die hedonistische, vom Stück angeprangerte römische Gesellschaft, in skurrilen Outfits, die sich zeitlich nicht verorten lassen. Ist es das 3. Jahrhundert nach Christus? Oder 1915? Die einzigen Darsteller, die im grau-weißen Alltagsgewand auf der Bühne erscheinen, sind die vier immergleichen armenischen Trümmerfrauen im Hintergrund. Der Rest des Ensembles ist in rot getüncht, oder gar mir abstrakten Körperteilen behangen. Sinnbild, wohl, für die jeweilige Menge an Blut, die an jedermanns Händen klebt. Wer sich zum Christentum bekehrt, wird wieder weiß.

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John Osborn (Polyeucte) und Mattia Olivieri (Sévère)
© Werner Kmetitsch

Es ist nur eines von vielen kleinen Details, die illustrieren sollen, dass Tomaszewski sein Publikum fordert aktiv mitzudenken. Und das ist anstrengend und in Teilen sogar ungemütlich. Etwa wenn die gesichtslosen Stoffpuppen ganz zum Schluss mit Leichentüchern bedeckt werden, auf denen Namen von realen Opfern gedruckt wurden. Dann kommt schnell dieses Gefühl auf, wie wenn man durch eine KZ-Gedenkstätte, Yad Vashem oder Con Dao läuft. 

Doch bei aller erdrückenden Plastizität und ironisierenden Opulenz der Kostüme von Aleksandra Wasilkowska, geschieht dies nie, um die sängerische Leistung zu erdrücken oder am Libretto vorbei.

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Mattia Olivieri (Sévère) und Roberta Mantegna (Pauline)
© Werner Kmetitsch

Das gibt beispielsweise Mattia Olivieri den Raum als Sévère auf ganzer Linie zu überzeugen. Der italienische Bariton spielt nicht nur besonders engagiert auch jede entblößende Pose der Regie mit, sondern füllt seine Stimme glaubhaft mit der ganzen Bandbreite seiner Rolle als römischer Prokonsul. Mal fordernd stark, mal verzweifelt schmachtend, aber stets wohl konturiert und kraftvoll. Dem steht John Osborn in der männlichen Hauptrolle als Polyeucte in wenigen Dingen nach. Auch er meistert die technisch durchaus anspruchsvolle Partie souverän, überzeugt auch in den Höhenlage durch sicheren Wechsel und strahlt mit unbeirrbarer heldischer Sicherheit.

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Les Martyrs
© Werner Kmetitsch

Roberta Mantegna ist als Pauline technisch brillant, doch für die letzten zehn Prozent fehlt vielleicht ein wenig das Nuancenreichtum. Egal ob sie ihren Ehemann Polyeucte als Ketzer anklagt, sich im intimen Zwiegespräch mit Sévère befindet oder ganz am Ende doch von Christus erleuchtet wird – ihr durchweg klarer Sopran bleibt stets eher analytisch.

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David Steffens (Félix)
© Werner Kmetitsch

Hervorzuheben ist sicherlich an dieser Stelle auch der Arnold Schoenberg Chor unter der Leitung von Erwin Ortner. Mit ihm werden die schillernden Tableaus dieser nicht immer ganz leichten Inszenierung nuancenreich zusammengehalten.

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David Steffens (Félix) und Mattia Olivieri (Sévère)
© Werner Kmetitsch

Die musikalische Leitung liegt an diesem Abend bei Jérémie Rhorer. Er führt das ORF Radio-Symphonieorchester Wien durchaus nicht unelegant durch den Abend. Manchmal wird es vielleicht etwas fahrig und der eine oder andere hätte sich vielleicht etwas mehr Feuer erwartet, aber zumindest weiß er die musikalischen Schlüsselszenen gekonnt auszuleuchten.

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Roberta Mantegna (Pauline)
© Werner Kmetitsch

Insgesamt ein fantastischer Abend. Keine leichte Kost und sicherlich nicht jedermanns Geschmack, aber ansonsten durchaus gelungen. Besonders schön zu sehen ist, dass das MusikTheater an der Wien sichtbar aus den kleineren und größeren Problemen der vergangenen Saison mit der Bühne in der Halle E des Museumsquartiers gelernt hat. Gesungen wird den ganzen Abend gut sicht- und hörbar von der Rampe, Videoproduktionen werden spärlich aber effektvoll eingesetzt und trotzdem wird die Tiefe der imposanten Bühne nicht vergessen.

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