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Kultur Operntrend

Die Wiederbelebung einer ziemlich toten Leiche

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Wursthäute und Christenverfolgung: Szene aus der Wiener Donizetti-Inszenierung Wursthäute und Christenverfolgung: Szene aus der Wiener Donizetti-Inszenierung
Wursthäute und Christenverfolgung: Szene aus der Wiener Donizetti-Inszenierung
Quelle: Werner Kmetitsch
Die französische Grand Opéra galt lange als die unmöglichste Form des unmöglichen Kunstwerks Oper. Verzopft, wunderlich, abgedreht und Sänger dafür gabs auch keine. Inzwischen hat sich alles geändert. Die große Oper ist wieder in.

Es ist noch gar nicht so lange her, da galt die französische Grand Opéra als das Verstaubteste des Opernverstaubten überhaupt. Schwerfällige, blutleere Klangdinosaurier, mehr Wirkung als Ursache, wie der auf die oftmals jüdischen Schöpfer eifersüchtige Richard Wagner feststellte.

Zudem durch Kürzungen fast zur Unkenntlichkeit entstellt, auch deshalb, weil die damals für die ersten Sänger ihrer Zeit erdachten Partien kaum ein aktueller Interpret mehr zu singen in der Lage war. In jedem zweiten Akt war zudem ein Ballett zu ertragen, weil die operfördernden Gönner damals den in der Semi-Prostitution lebenden Tänzerinnen auch legal unter den Rock zu blicken wünschten.

Dieses Image hat sich inzwischen sehr geändert. Schließlich wurde in diesem Genre dramaturgisch wie bühnenpraktisch viel ausprobiert, was sich bis in die Hollywood-Blockbuster als Erfolgsrezeptur gehalten hat. Einstürzende Schlösser, explodierende Vulkane, im Seesturm umhergeworfene Schiffe, religiöse Gemetzel, im Mondschein teuflisch tanzende Nonnen, das wollten die Massen sehen.

Das funktioniert, wird es ernst genommen, heute noch. Inzwischen finden sich auch die Vokalkönner für diese Dressurtricks. Regisseure wie Dirigenten entdecken ihre Liebe zum großen Genre. Dessen Geschichten um Intoleranz, Betrug, Religions- und Angriffskriege, unerfüllte Hoffnungen und zerstörte Träume uns auch gegenwärtig noch einiges zu erzählen haben.

Der jüngste Siegeszug der Grand Opéra über die seriösen Opern Rossinis als Vorläufer, die französierten Paris-Spektakel Donizettis und Verdis, die Meyerbeer- und Halévy-Kracher, das vergessene Repertoire, welches die Stiftung Palazzetto Bru Zane unaufhörlich und unerschrocken exhumiert, bis hin zu Wagners „Rienzi“, der 2026 sogar erstmals zu Grüner-Hügel-Ehren kommen soll – das einst vorschnell abgehakte Genre erweist sich als ausgesprochen resilient.

Ganz besonders, wenn es um die größte aller Grand Opéras geht, die nobelste, musikalisch wertvollste, Giuseppe Verdis französischer „Don Carlos“ von 1867. Unterdrückung der spanisch besetzten Niederlande, Glaubensintoleranz, toxische Vaterliebe, Macht der starren Kirche, Eifersucht, eine erzwungene, zum Scheitern verurteilte Mutter-Stiefsohn-Beziehung, eine enttäuschte Männerfreundschaft – alles da bei Schiller, aber zur emotional schönsten, auch zur kausal stärksten Wirkung von Verdi musikdramatisch überhöht.

"Don Carlo" in Genf

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Bis in die Siebziger des 20. Jahrhunderts hinein galt das als Phantom einer angeblich gescheiterten, verschlimmbesserten und verfälschten Partitur. Und auch dann hat es noch gedauert, bis der schwerfällige Repertoirebetrieb die Qualitäten der Urfassung erkannte, sich auch Sänger bereitfanden, ihre Rollen neu und noch schöner zu lernen.

Am Grand (!) Théâtre de Génève, wo Aviel Cahn, der designierte Chef der Deutschen Oper in Berlin, als Intendant Aviel Cahn Dienst tut und mit den „Hugenotten“ und „La Juive“ höchst gelungene Grand-Opéra-Produktionen herausgebracht hat, wurde nun die unter dem Motto „Machtspiele“ stehende Saison mit „Don Carlos“ eröffnet, nur mit minimalen, noch von Verdi selbst vorgenommenen Kürzungen und vier noblen Stunden Musik.

Neuerlich dirigiert von Marc Minkowski, der dieses Repertoire inzwischen auch dem Orchestre de la Suisse Romande nahegebracht hat. Das bleibt auch in der größten Düsternis im Brio, spielt schlank, aber doch farbensatt dunkelschön, mit lichtem Holzbläsersatz als Klangbalanceknackpunkt. Selbst die heftigsten Ausbrüche haben so noch eine gewisse Leichtigkeit und Nonchalance. Es wird nie schneidend oder drückend-dräuend. Und auch pfeffrige Italianità bleibt außen vor, in diesen Aranjuez-Gärten regieren rhythmische Eleganz und dynamische Delikatesse.

Spanien ist Russland

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Es regiert aber eben auch der Tod. Der eines erdrückenden, sich der katholischen Kirche unterwerfenden habsburgischen Absolutismus, aber auch der eines freudlosen Franco-Faschismus. Ja sogar, nur wenige Regiedetails von Lydia Steier (etwa das folkloristische Brautkleid Königin Elisabeths) deuten es an, der eines heute die orthodoxen Klerikalen miteinbeziehenden Putin-Stalinismus.

Spanien ist Russland: So liefert die Ausstattung (Momme Hinrichs – Bühne & Videos, Ursula Kudrna – Kostüme, Felice Ross – Licht) eine die Jahrhunderte wie Nationen einende, ewige Wiederkehr des rigiden Totalitarismus, der flexibel interpretierten politischen Willkür, der wie eingesargten, auf Konformismus getrimmten Volksmasse, die jedes individuelle Aufbegehren erstickt.

Und dabei steht da nur eine graue, sich drehende Kiste. Die zeigt ein Architekturportal, auch als Bühne brauchbar, einen großen Raum, der universell als Waldlichtung, Kapelle (mit Karl-V.-Reliquie), Ballsaal, Hinrichtungsplatz, Saal, Arbeitszimmer dient. Zwei Seiten haben schiebbare Holzwände, hinter denen sich ein Gefängnis samt Geige spielendem, aber trotzdem wenig humanem Wachmann auftut oder Abhörboxen mit Beobachtungsluken, Tonbandkisten, sehr viel Personal. Selbst die Mönche tragen hier Spionagekopfhörer: das Leben der spanischen Anderen.

Lydia Steier, die immer bei Großwerken besonders gut ist, inszeniert das knapp, doch dicht gebaut, immer ganz nah dran an den Figuren und Konstellationen. König Philipp (ungewöhnlich scharf: Dmitry Ulyanov) feiert im Audodafé mit altmodischen Propagandafilmen perfekten Personenkult. Elisabeth (die lyrisch-starke, aber ein wenig farblose Rachel Willis Sørensen) ist schwanger, zerrissen zwischen Neigung und Pflicht, zusätzlich verwirrt durch die manipulative, aber selbst in ihr Gefühlschaos verstrickte Prinzessin Eboli (flammend und flackernd: Eve-Maud Hubeaux).

Eine ruhende Baritoninsel in der emotionalen Brandung bleibt der Posa des dränglich-fluide, mit wohlgerundeten Spitzen singenden Stéphane Degout, während der unruhige Thronerbe Carlos völlig auf sich fixiert ist (doch mehr Latino als französischer Tenor: Charles Castronovo). Zusammen mit seiner Braut/Stiefmutter bleibt er der ewige Außenseiter dieser dysfunktionalen, von der Kirche (dem sehnigen Großinquisitor im Rollstuhl – Liang Li, wie dem Mönch – William Meinert) manipulierten Königsfamilie.

Deren Scheitern hat freilich Auswirkungen auf die Weltpolitik: Das Volk wird einfach nur unterdrückt, die vergeblich um Gnade bittenden flandrischen Gesandten werden erhängt, Posa erschossen. Und selbst Verdis tröstliche „Stimme vom Himmel“ ist hier nur eine Mutter mit Kind.

Vier Stunden große Musik in einer aktuellen Geschichte: Verdi in Genf
Vier Stunden große Musik in einer aktuellen Geschichte: Verdi in Genf
Quelle: DOUGADOS MAGALI

Privates Handeln hat große Folgen. An die von Verdi angebotene „Erlösung“ durch den mysteriösen Karl V. glaubt Lydia Steier nicht: Hier wartet am Ende der Strick selbst auf Carlos und Elisabeth, die eben den Erben Philips geboren und ihre Pflicht „erfüllt“ hat.

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Markiert dieser grandiose, in Genf sehr klar anachronistisch durch Zeiten und Systeme seine Botschaft aufzeigende „Don Carlo“ fast schon den Endpunkt der Grand Opéra, so steht Gaetano Donizettis „Les Martyrs“ von 1840 mitten in ihrer Blütezeit. Und doch kennt man den Vierakter um von den Römern glaubensverfolgten Christen im antiken Armenien so gut wie gar nicht.

Am ehesten bekannt ist noch dessen Original „Poliuto“ von 1837, das von der neapolitanischen Zensur verboten wurde und dessen Heldin Paolina 1960 zur Scala-Eröffnung die letzte neue Rolle von Maria Callas war. Der Aufführungsmitschnitt offenbart freilich nicht nur deren längst hörbaren Vokalverfall, sondern dass der von Franco Corelli mit Gusto gebrüllte Titelheld hier natürlich bedeutsamer ist.

Donizetti in Wien

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Das gilt auch für die clever adaptierte Umarbeitung für Paris, mit der Donizetti nicht nur die ungeduldige Opéra zufriedenstellte. Der bereits auf Italienisch auf einer Corneille-Tragödie basierende Text war vom Routinier Eugène Scribe auf die Pariser Verhältnisse umgearbeitet worden (weniger Solonummern, mehr Ballette), 80 Prozent der „Poliuto“-Musik ließen sich ebenfalls adaptieren. Die für den Ausnahmetenor Adolphe Nourrit für Neapel konzipierte Tenorpartie, die dann bei der posthumen italienischen Uraufführung 1848 der gleichfalls bedeutende Gilbert Duprez sang, blieb in der französischen Fassung ähnlich anspruchsvoll.

2015 wurde „Les Martyrs“ erstmals kommerziell für CD eingespielt, damals stand der famose Michael Spyres vor den Londoner „Opera Rara“-Mikrofonen. Bei einer der noch selteneren szenischen Produktionen ließ sich jetzt im Theater-an-der Wien-Ausweichquartier Museumsquartier souverän John Osborn als höhensicher nicht wenige Spitzentöne attackierender Polyeucte vernehmen.

Der ist der römische Mann der armenischen Gouverneurstochter Pauline (mit zartfestem, sehr expansionsfähigem Sopran: Roberta Mantegna), der heimlich zum Christentum konvertierte. Pauline hat einmal den tot geglaubten Sévère (der charismatische Bariton Mattia Olivieri im Damenunterrock) geliebt, der jetzt wieder auftaucht und für Eheärger sorgt. Und obwohl Paulinas Vater Felix (ein wenig ungenügend: David Steffens) ein brutaler Christenverfolger ist, bekennt sich Pauline nach einer Glaubenserleuchtung zu ihrem Mann: Gemeinsam werden sie in der Arena von den Löwen zerrissen.

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Letzteres zeigt natürlich schon Donizetti nicht mehr, aber in Wiens Halle E gibt es eigentlich gar nichts zu sehen. Zumindest nichts, was irgendeinen Sinn macht. Der polnische Inszenator Czesary Tomaszewski und seine schrille Designerin Aleksandra Wasilkowska haben vornehmlich den surreal bunten Stil von Ersan Montag schlecht plagiiert.

Und so stehen alle sinnlos in grottig-genderfluiden Kostümen aus Wursthäuten, mit applizierten Gliedmaßen, Fransen, Tüll und Flokati, Mündern als Köpfen, Federarmen, rotem Ganzkopf-Glitter-Make-Up oder Schminkbalken über dem Mund zwischen Vorhängen mit hängenden Krallenhänden und Monsterzähnen sowie verschimmelten Toastwänden herum. Und weil man sich auch an den von den Türken begangenen armenischen Genozid von 1915 erinnert hat, wird der als dünne Interpretationsfolie über die Ouvertüre gestülpt, und am Ende bekommen Textilleichen T-Shirts mit armenischen Namen …

Punktsieg für Wien

Dafür wird zwischen der frivol-lahmen Römerorgie glaubensstark und antichristlich-wütend gesungen. Die fein gestrickte, abwechslungsreiche Partitur erklingt pathetisch-strahlend unter dem stilistisch sehr richtig zwischen Klassizismus und feiner Romantik ausgependeltem Jerémie Rohrer am Pult des folgsamen ORF-Symphonieorchesters Wien.

Auch für die dunklen Farben und Zwischentöne (etwa der vier Fagotte in der Ouvertüre) ist Platz. Der Arnold Schoenberg Chor nutzt seine Hymnengelegenheiten vollklingend optimal. So lebt im gern etwas opernrückständigen Wien die Grand Opéra durch die Delikatesse ihrer Musik – in Genf aber atmete sie auch packend notwendig-aktuelle Untertöne.

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