„Frau ohne Schatten“ in Köln :
Kehraus der Geisterwelt

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Das große Halbwelttheater: Die Amme (Irmgard Vilsmaier) steigt auf der Showtreppe in die Welt der Färberin (Lise Lindstrom) hinab, um in sehr unglaubwürdiger Manier eine Dienstmagd zu spielen.
Aus metaphysischen Rätsel werden tolle Schlager: Katharina Thoma und Marc Albrecht zeigen mit der Kölner „Frau ohne Schatten“, welche Gefahren und Chancen im Spiel stecken.

Im Jahr 1919, nach dem Zusammenbruch der mitteleuropäischen Kaiserreiche, wurde die Oper „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss uraufgeführt, und sie beginnt mit einem Aufeinandertreffen zweier Dienstboten, die, wenn man vom Wortlaut von Hugo von Hofmannsthals Libretto ausgeht, sich beide der alten Ordnung verpflichtet fühlen und deren Prinzipien zur Geltung verhelfen wollen. Latent zeichnet sich aber ein Konflikt ab. Der Bote des Geisterkönigs tituliert die Amme, die sich nicht um ein Kind, sondern um ei­ne erwachsene Frau zu kümmern hat, die Tochter des Geisterkönigs, die mit einem Menschenkaiser vermählt ist, als Hündin. Er schreibt ihr die Schuld daran zu, dass ihr Schützling sich aus einem eigens für die Königstochter eingerichteten Naturschutzgebiet davongestohlen hat.

Der Bote hat einen Auftrag zu er­füllen, zu dem die Präsentation dieser Rechnung wohl nicht gehört, denn sie betrifft ein Verhalten in der Vorvergangenheit, die Vorgeschichte seines Auftrags, der sich aus dem Auftrag ergibt, den ihrerseits die Amme auszuführen hat. Sie überwacht im Exil der Kulturwelt die Kaiserin, und ihrer eigenen Überwachung dient der Inspektionsbesuch des Boten. Der Zuschauer sieht sich versetzt in die Welt von „Up­stairs, Downstairs“ („Das Haus am Eaton Place“), der englischen Fernsehserie, die den Haushalt einer Adelsfamilie im Wandel der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg schildert. Das Dienstpersonal ist so streng hierarchisch organisiert wie das Oberhaus; Konflikte entstehen aus der Spannung zwischen diesem System der Rangunterschiede und der funktionalen Logik der Verteilung der Aufgaben.

In der Neuinszenierung von Katharina Thoma an der Oper Köln, der Eröffnungspremiere der zweiten Spielzeit des Intendanten Hein Mulders, verleiht Karl-Heinz Lehner, der mit Mulders aus Essen nach Köln kam, dem Befehlston des Geisterboten dröhnende Ob­jektivität. Als Stimme seines über die gesamte Dauer der Oper unsichtbar und sprachlos bleibenden Herrn mit dem exotischen Namen Keikobad gibt er dem idealistischen Gedanken der Einheit von wirklicher und gewollter Welt die Form eines majestätischen Prospekts.

Die Amme rechtfertigt sich, indem sie die Geschichte der Flucht der Prinzessin aus ihrer Sicht erzählt. Es ist eine genea­logische Anekdote: Das Erbteil der Königin soll in der Impulshandlung durchgeschlagen sein. „Von der Mutter her / war ihr ein Trieb / übermächtig / zu Menschen hin!“ Irmgard Vilsmaier legt sich hier melodisch ins Zeug, setzt zu einer Ballade an und gibt zu verstehen, dass die Geschichte im Botenzimmer des Geisterkönigspalastes schon bekannt sein dürfte. Es ist das alte Lied von der Schwachheit der Frauen, und es ist aus anderem musikalischen Material gestrickt als die Uniform des Befehlserteilers. Den monumentalen Akkorden kon­trastieren Phrasen, die unverwüstlich sind, weil sie gepresst und gedehnt, hingeworfen und aufgelesen werden können.

Permanenter Umschlag von Schwarz und Weiß

Auf der Bühne des Staatenhauses trägt die Am­me eine schwarze Jacke über einem schwarzen Rock, eine Melone und statt Charlie Chaplins Stöckchen eine Krücke. Das von Irina Bartels entworfene Kostüm weist sie als Mephisto­figur aus dem Revuetheater aus. Der Geisterbote im silbernen Anzug ist schon der zwölfte seines Standes, der zur Amme geschickt worden ist und unverrichteter Dinge in die höhere Welt heimkehren wird. Man hofft, Keikobad verdient genug an den Trank- und Brandopfern der von den Geistern verachteten Menschen, um sich so viel Personal leisten zu können. Lakaien stehen in Überzahl parat, damit dam darüber staunen kann, dass niemand aus der Reihe tanzt: Das Grundgesetz der Operettenmonarchie. „Die Frau ohne Schatten“ könnte auch „Die unlustige Halbwaise“ heißen.

Barak (Jordan Shanahan) spendet die Kinderkommunion: Am Schluss nimmt Katharina Thomas Inszenierung eine überraschende Wendung in einen kulturchristlichen Humanismus.
Barak (Jordan Shanahan) spendet die Kinderkommunion: Am Schluss nimmt Katharina Thomas Inszenierung eine überraschende Wendung in einen kulturchristlichen Humanismus.Matthias Jung

Mit spektakulärer Selbstbeherrschung vollzieht Irmgard Vilsmaier einen per­manenten Wechsel der Stimmfarbe, einen Umschlag von Schwarz und Weiß, Schließung und Öffnung von Silbe zu Silbe. Die Amme ist eine Figur auf der Schwelle, die sich persönliche Befriedigung verschafft, indem sie ihr Dienstpflichtprogramm mit zynischer Konsequenz durchzieht. Energiereserven schöpft die Königskinderfrau aus vorgefertigten Gedanken. So kann der Zuschauer auf die Idee kommen, dass die gesamte metaphysische Apparatur der Opernhandlung, die Kombination mythologischer Setzungen und ethischer Prämissen, deren höherer Sinn für das Publikum so schwer einsehbar ist wie die oberen Etagen am Eaton Place für den Passanten ohne Verbindungen, ih­re Wirkung nach Art eines Potpourris von Schlagern entfaltet. Die Imperative der Be­schaffung eines Schattens, der als Symbol der Gebärfähigkeit dient, und der Zufriedenstellung der väterlichen Autorität wä­ren als Spielhandlungsanweisungen zu verstehen, nachgeträllerte Vorgaben für den Zeitvertreib von Kaisern und Königen, die sich vom Machtverlust ablenken.

Als wären auch die Motive Zitate

Marc Albrecht gibt am Pult des Gürzenich-Orchesters ein rasches Tempo vor, das diese Deutung möglich macht. Die Handlung ist aus Versatzstücken montiert, Zitaten aus „Faust“ und „Zauberflöte“, und Albrecht behandelt auch die musi­ka­lischen Motive wie Glanzstücke aus dem Fundus, an denen man sich nicht satt­hören kann, weil alles in Bewegung bleibt. So verwandelt sich die als bombastisch gefürchtete Kunstmärchenoper in ein Singspiel; unter den vier innig und verständlich singenden Darstellern der beiden Ehe­paare aus oberer und unterer sozialer Welt sticht Lise Lindstrom als Färberin hervor.

Am Anfang des dritten Aktes wartet die Regie mit einer Überraschung auf. Von hier an können sich Aufführungen der „Frau ohne Schatten“ hinziehen, weil Versöhnung und Rettung der Liebespaare beschlossene Sache sind, aber noch die rituellen Prüfungen nach dem Handbuch der Paartherapie des legendären Modedoktors Sarastro zu absolvieren sind. Katharina Thoma stellt den Getrennten, die scheinbar ohne Grund in der Vereinzelung verharren, Sanitäter zur Seite, die sie mit Decken, Getränken und Berührungen versorgen. Barak und Färberin, Kaiser und Kai­serin sind Versprengte unter Schick­sals­genossen, Flüchtlingen, die einer Na­tur­katastrophe oder einem Krieg ent­ronnen sind. Auch ein aus Langeweile an­gezet­teltes Spiel mit verteilten Rollen kann eine Traumatisierung auslösen, deren Bearbeitung hier die Zeit eines ganzen langen Aktes verlangt: Die­se Einsicht steuert das politische Bild der geduldig gespendeten Nothilfe zur Deutung des verdoppelten Ehedramas bei.

Wegen der eingeschränkten Umbaumöglichkeiten in der rechtsrheinischen Ausweichstätte der Oper Köln hat man auf die „Verwandlungen“ des Bühnenaufbaus verzichtet, die räumlich-kosmischen Entsprechungen zu den Metamorphosen aus dem Ammenmärchen, die den Figuren angedichtet werden, dem Rollenwechsel von der Gazelle zur Gattin oder von der Färberin zum Vamp. Die weißen Marmorstufen des Einheitsbühnenbilds von Johannes Leiacker gehören vielleicht zu einem Brunnen oder einem Riesendenkmal wie der „Schreibmaschine“ Viktor Emanuels II. in Rom. Der Fluch der Versteinerung, mit der das Textbuch den Kaiser für den Fall bedroht, dass seine Gemahlin keinen Thronfolger zur Welt bringt, hat sich hier schon an der gesamten Zivilisation vollzogen. 

Sanitäter sitzen in jeder Theaterauf­führung im Publikum. In ihren Personen nehmen die von der Am­me vergeblich beschworenen Übermächte die tröstliche Ge­stalt eines Bildes für die verborgene Kraft unserer demokratischen Gesellschaft an.