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BERLIN/ Komische Oper im Hangar 1 : DAS FLOSS DER MEDUSA

03.10.2023 | Oper international

Berlin/ Komische Oper: „Das Floß der Medusa im Hangar 1, am 02.10.2023

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Copyright: Jaro Suffner

Es war die vorletzte Vorstellung, die viele Menschen und die Berichterstatterin am 02. Oktober gerade noch erwischt haben. Am 03. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, war die allerletzte zu sehen, die man wegen des Publikumsandrangs noch angehängt hatte.

Der Aufführungsort, der Flughafen Tegel mitsamt der Berliner Nachkriegsgeschichte, und das zweiteilige szenische Oratorium „Das Floß der Medusa“, das Hans Werner Henze 1968 nach dem Libretto von Ernst Schnabel komponierte, passten hier genau zusammen.

Pate gestanden hatte außerdem das gleichnamige Gemälde im Pariser Louvre des französischen Malers Théodore Géricault (1791-1824), der diese wahre Geschichte, die sich vor der afrikanischen Küste ereignet hatte, überdeutlich auf der Leinwand verewigte.

In beiden Fällen – bei dieser Floßkatastrophe in der Ferne und während der sowjetischen Blockade Berlins vom 24.06.1949 bis zum 12. Mai 1949 – ging es ums Überleben. Das ältere Publikum, das ebenfalls in den riesigen Hangar 1 strömte, konnte sich vermutlich noch gut an die „Luftbrücke“ erinnern. Im Minutentakt brachten insbesondere amerikanische Flugzeuge, „Rosinenbomber“ genannt, alles, was die eingekesselten Berliner zum Weiterleben in Freiheit benötigten.

Der Hangar 1 war jetzt – nach nun mehrjähriger Schließung der sanierungsbedürftigen Komischen Oper in der Behrenstraße – der tatsächlich beste Ort für diese sensationelle Aufführung. Regisseur Tobias Kratzer (geb. 1980) und seit kurzem Intendant der Staatsoper Hamburg, hatte das alles wohl genau bedacht und verstanden, den Flughafen Tempelhof auf neue Weise intensiv und fantasievoll zu beleben.

Zwei Tribühnen hatte man gegenüber aufgebaut, und von beiden Seiten schauten die Besucher/innen in ein großes rechteckiges Wasserbecken, auf dem schon vor Beginn der Aufführung das Floß mit den Schiffbrüchigen schunkelte.

An die heutige dramatische Situation der Bootsflüchtlinge und Migranten auf dem Mittelmeer wurde auch erinnert. Die mit einem Lautsprecher in einem roten Schlauchboot auf dem Wasserbecken kreisende Frau (Idunnu Münch) wirkte wie eine Seenotretterin.

Doch der ihr zugewiesene Name Charon zeigt, dass sie den alten Fährmann verkörperte, der in der griechischen und römischen Mythologie die Toten gegen eine Münze beispielsweise auf dem Totenfluss Styx in den Hades transportierte. Sie erhielt zum Schluss vom Publikum sehr heftigen Beifall.

Insgesamt ist hervorzuheben,, dass der Chor der Komischen Oper, geleitet von David Cavelius, sowie der Staats- und Domchor Berlin, trainiert von Kai-Use Jirka, ohnehin zur Spitzenklasse zählen, aber diesmal noch über sich hinausgewachsen sind. Ihr gewaltiger, aber reiner Klang füllte den ganzen riesigen Raum.

Der Tod  (La MORT) ist in diesem Oratorium weiblich und wurde von Gloria Rehm, einer schönen schlanken Frau im grauen Glitzerkleid, bis in die spitzesten Spitzentöne hinein fabelhaft gesungen. Doch auch sie musste ins Wasser und fast alle anderen auch. Die Generäle von der auf ein Riff gelaufenen Fregatte Medusa hatten sich schnell auf den wenigen Rettungsbooten, hier durch Bretter ersetzt, teils gekonnt kraulend davongemacht.

Derweil lockte die Todesfrau die Menschen auf dem Floß an, ihr ins Totenreich zu folgen, und dieses erlösende Angebot nahmen bald mehr und mehr der (eigentlich) rund 300 Verzweifelten an. Die anderen mussten schlimme und heiße Tage überstehen.

Selbst Jean-Charles, der auf dem Floß alles regelte und die knappen Vorräte gerecht verteilte, schwamm auch mal dieser attraktiven Todesfrau entgegen, entschied sich aber doch fürs  Überleben.

Sein kräftiger Bariton überstrahltedie Wasserwüste, eine Rolle, die Günter Papendell laut Programmheft zugeteilt war. Ob er wirklich an diesem Abend oder statt seiner ein Ersatzmann sang, konnte ich aus der Ferne nicht erkennen. Seine Leistung war jedenfalls super.

Das  galt selbstverständlich auch für das Orchester der Komischen Oper, das über alle Erschwernisse hinweg in diesem ungewohnten Umfeld bestens spielte. Auf den äußerst sachkundigen und lebhaft dirigierenden Titus Engel konnten sich die Musizierenden voll verlassen. Hier geriet, pardon, ein Name wirklich zum Programm.

Alle Mitwirkenden wurden zuletzt vom Publikum heftig und anhaltend bejubelt, was erkennen lässt, dass auch diejenigen gute Ohren und Augen für Topleistungen haben, die sonst kaum oder gar nicht in eine Oper gehen. Vermutlich war Henzes Musik für nicht wenige Besucher/innen sogar etwas befremdlich, doch die Story mit ihrer Licht- und Wasserfülle hat das „übertönt“.

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Copyright: Jaro Suffner

Dass Außergewöhnliches und Erlebniswertes im Hangar 1 vonstatten ging, haben die meisten Besucher/innen aber wohl nicht den positiven Kritiken nach der Premiere entnommen. Das war Mund-zu-Mund-Propaganda! Alle Vorstellungen waren schnell ausverkauft und sicherlich zur Freude derjenigen, die sich an dieses schwierige und kostspielige Unternehmen gewagt hatten. Sicherlich war es die teuerste Inszenierung, die es an der Komischen Oper je gegeben hat, aber sie wird auch als Sonderleistung in Erinnerung bleiben.

Ob dieses Oratorium in der Behrenstraße so mitreißend gewirkt hätte, ist auch die Frage. So etwas braucht Platz. Hoffentlich haben sich diese Aufführung im Hangar 1 auch viele Steuerzahlende gegönnt, die letztendlich den Kulturbetrieb finanzieren.

Jedenfalls wollten sich ganze Familien von Kindern bis zu den Großeltern dieses Ereignis sichtlich nicht entgehen lassen. Henzes Oratorium, das 1868 in Hamburg einen Skandal auslöste, war jetzt in Berlin willkommen, aber keineswegs die treibende Kraft. Es waren die ungewöhnliche Umgebung und auch der relativ leichte, aber nicht leichtfertige Umgang mit dem Desaster, damals und heute. Das Morden für ein Glas Wasser und der sogar praktizierte Kannibalismus wurden nicht deutlich gezeigt.

Vielmehr sollte der Überlebenskampf im Mittelpunkt stehen, den damals nur 15 Menschen von rund ursprünglich 300 gewannen. Der Not-Kapitän Jean-Charles, der schließlich mit einem roten Tuch ein vorbeifahrendes Schiff herbeiwinkte und nach dieser Tat starb, hatte die wenigen auch geistig Robusten gerettet. 

Daher war und ist bei aller Wasserhüpferei dieser Kampf ums Überleben eine sehr wichtige und notwendige Botschaft, dargeboten in nur 90 pausenlosen und prall gefüllten Minuten. Solche kompakten, gut durchdachten und spannenden Aufführungen tun wahrscheinlich per saldo mehr für das Überleben der Kunstform Oper als 6-stündige, ebenfalls teure, oft schlecht inszenierte und von Pausen zerdehnte „Ringe“ landauf und landab.

 Ursula Wiegand

 

 

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