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Opern-Kritik: Opéra de Lyon – Die Frau ohne Schatten

Die Schuhe der Färberin

(Lyon, 17.10.2023) Der genialische Musikdirektor Daniele Rustioni schärft die Modernität des märchenhaften Wunderwerks von Richard Strauss. Regisseur Mariusz Treliński setzt auf einen symbolischen Realismus von großer psychologischer Dichte. Das Quintett der Hauptpartien triumphiert.

vonPeter Krause,

Die Seelenpein dringt aus jeder Pore der Partitur. Wie diese beiden großen Frauenfiguren, die Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss anno 1919 aus dem Geiste des Dr. Freud wie des symbolistisch aufgeladenen Jugendstils ersonnen haben, ihren ganzen immensen Leidensfuror ausdrücken, gerät an der Opéra de Lyon so packend wie nur selten. Wenn die Kaiserin vokal in höchste Himmelshöhen entschwindet und die Färberin dementsprechend in erdig düstere Abgründe hinabsteigt, unterstützt Daniele Rustioni die beiden Sopranstimmen mit dem Orchestre de l’Opéra de Lyon so gar nicht devot kapellmeisterlich, sondern mit dem Mut zur Zuspitzung.

Der genialische italienische Musikdirektor von Frankreichs zweitwichtigstem Opernhaus geht bei seinem Debüt im großen spätromantischen Strauss-Fach (nach Wagners „Tannhäuser“ vor einem Jahr) mit forsch drängenden Tempi, einem schlanken Orchesterklang und einer scharfen Artikulation zu Werke. Er zelebriert seinen Strauss nicht in weit gespannten Bögen, raut ihn stattdessen auf, setzt auf die krasse Modernität dieser grandiosen Musik, arbeitet Details heraus, forciert die disparaten Klangwelten des Stücks, die so ganz den beiden Märchensphären entsprechen, von denen uns Librettist und Komponist hier in gleichsam frühfilmischer Schnitttechnik in flinkem Wechsel erzählen: Das sind die Welt des Kaiserpaars auf der einen Seite, jene der Färberpaars auf der anderen. Aristokratische Abgehobenheit trifft bitteres Prekariat. Das Opernmärchen gibt sich hier erstaunlich sozialkritisch ambitioniert: Die reiche Hälfte der Welt lebt auf Kosten der armen.

Szenenbild aus „Die Frau ohne Schatten“ an der Opéra de Lyon
Szenenbild aus „Die Frau ohne Schatten“ an der Opéra de Lyon

Viel zu viel Platz im Schlafzimmer für echte Erotik

Regisseur Mariusz Treliński und sein Bühnenbildner Fabien Lédé stellen die beiden Seiten in großer Klarheit gegenüber. Die Drehbühne hilft ihnen dabei, sie direkt als zwei Seiten einer Medaille aufzufassen. Wir befinden uns in einem Art déco-Ambiente der Entstehungszeit der Oper: Da ist bei Kaisers derart viel Platz im designschicken Riesenschlafzimmer, dass wohl schon deshalb keine erotische Fantasie zwischen dem kriselnden Ehepaar aufkommen mag. Gegenüber im Rücken der hehren, aber doch gar nicht heilen Welt hausen die Unterschichten-Unterweltler von Baraks Familie: Färberin und Färber gemeinsam mit den drei Brüdern des Hausherrn. Aus der Färberei scheint hier eine Art Wäscherei geworden zu sein.

Symbolisch aufgeladen sind die beiden Zwischenbereiche, die beide Leben trennen und gleichzeitig vereinen: einerseits der wild wuchernde Palmenwald als Zeichen der Natur, von der sich beide Paare längst entfremdet haben und die zum Dekor degeneriert ist, andererseits das Badezimmer als Übergang von einer Sphäre in die andere, in dem sich die Kaiserin zu den harten Orchesterschlägen zu Beginn der Oper das Leben nehmen will. Und wo die Färbersfrau sich in ihrer Frustration zurückzieht, wo aber auch das Wasser dem Handwerk des Färbers als Grundlage seiner Arbeit dient. Wasser als Ursprung des Lebens ist im hofmannsthalschen Wortgebrauch ja zudem enorm stark mit Bedeutung aufgeladen.

Szenenbild aus „Die Frau ohne Schatten“ an der Opéra de Lyon
Szenenbild aus „Die Frau ohne Schatten“ an der Opéra de Lyon

Weibliches Emanzipationsstreben

Dieses Setting nutzt Mariusz Treliński für seine präzise Zeichnung der beiden Frauenschicksale, die in ihrem Emanzipationsstreben eng miteinander verknüpft sind. Von beiden Frauen erwarten ihre Ehemänner an erster Stelle die erfolgreiche Reproduktion: das Kinderkriegen. Bei der ökonomisch perfekt abgesicherten Kaiserin will es einfach nicht klappen; die vom Chaos der Perspektivlosigkeit frustrierte Färberin entzieht sich dem sexuellen Wollen (und wohl nur bedingten Können) ihres Mannes, will keineswegs mehr auf die mögliche Mutterrolle reduziert werden.

Die klobigen Clogs (Kostüme: Marek Adamski), die sie zu Anfang trägt, stehen für diese ihr angetragene Rolle der mütterlichen Erdverbundenheit, von der sie sich zu befreien trachtet. Der Wechsel ihres Schuhwerks hinauf in damenhaftere High Heels ist schönes einfaches Zeichen für das Verführungswerk der Amme, die ihr den Schatten, mithin also die Fähigkeit der Mutterschaft, abhandeln will, um damit die in dieser Hinsicht darbende Kaiserin im Tausch auszustatten.

Szenenbild aus „Die Frau ohne Schatten“ an der Opéra de Lyon
Szenenbild aus „Die Frau ohne Schatten“ an der Opéra de Lyon

Ein Barak für die Ahnengalerie der Besten der Besten

Enorm differenziert und eben nie nur eindimensional zickig gibt Ambur Braid eine Färbersfrau, die sich nicht darauf versteift hat, ihren liebevoll zugewandten, aber sie nicht wirklich verstehen könnenden Mann von sich fernzuhalten. Es gibt bereits im ersten Aufzug Momente der erneuten Annäherung, etwa wenn Barak ihr vorsichtig vom feinen Zuckerwerk anbietet und ihr eine Praline in den Mund steckt. Ach, da würde sie sich eigentlich so gern dem erhofften gemeinsamen Glück hingeben – und entzieht sich dann eben doch den Avancen ihres ehelichen Partners. Der intensiv hochdramatische, sehr sicher, also nie flackernd geführte Sopran von Ambur Braid strebt derzeit vollends ins schwere Wagner- und Straussfach. Ihre jugendliche, hochgewachsen schlanke Erscheinung dient dabei der Glaubwürdigkeit einer jungen Frau, die aufrichtig mit sich und ihre Rolle als Frau ringt. Aufregend und berührend, wie die Sängerin am Ende des zweiten Aufzugs in die Bruststimme hinabgleitet, wenn sie bekennt, ihren Mann ja doch nicht betrogen zu haben: „Ich hab‘ es nicht getan!“.

Lichtes Gegenbild ist die Kaiserin der Sara Jakubiak, die ihrem jugendlich dramatischen Sopran eine sehnend jubelnde Strauss-Leuchtkraft abgewinnt: eine Idealbesetzung. Gleich einer Schwester des Mephisto von Gustav Gründgens kommt die Amme von Lindsay Ammann daher: mit markanter, aber nie überzeichneter Mimik des weiß geschminkten Gesichts und mit aufregend dunklen Alt-Tönen ihrer markanten Stimme, die nur in der extremen Höhenlage ins Schrille tendiert. In die Barak-Ahnengalerie der Besten der Besten reiht sich Josef Wagner mit seinem gleichermaßen balsamisch-warmen (mit feinen Kopfstimmenfarben abgetönten) wie textstarken Bass-Bariton ein: Man wird ihn mit diesem Rollenportrait des aufrichtig schlicht liebenden Mannes einst in die Reihe eines Walter Berry und Franz Grundheber stellen. Vincent Wolfsteiner als heldentenoraler Kaiser vervollständigt das Quintett der Hauptpartien: Man hört ihm seine vielen Siegfriede an, die heiklen Klippen der Partie meistert er dennoch mit weit größerem Anstand als die meisten seiner Kollegen.

Szenenbild aus „Die Frau ohne Schatten“ an der Opéra de Lyon
Szenenbild aus „Die Frau ohne Schatten“ an der Opéra de Lyon

Sanft gebrochenes Happy End

Dies lässt sich auch über die Herausforderungen an die Regie sagen, die das Werk in seiner finalen Apotheose der doppelten Paarfindung nun einmal bietet. Denn ist das heute wirklich so einfach mit der Selbstüberwindung, die zum eigenen und fremden Glück führt? Die Grenzen der beiden Welten werden im dritten Aufzug durchlässig, das wuchernde Palmengrün scheint sie zu überwinden. Und der Regisseur rettet sich aus dem durchaus filmisch gearbeiteten Realismus der ersten beiden Akte ins Symbolische. Und bricht das Ende dabei auf sensible Weise: Denn die nun (im Verzicht darauf) möglich gewordene Mutterschaft der Kaiserin scheint sich nicht eingestellt zu haben, sie ist bloße Hoffnung geblieben.

Sara Jakubiak tritt am Ende als sichtlich gealterte Frau in den Armen ihres am Stock gehenden Mannes auf – und bleibt dann allein auf ihrem Riesenbett sitzen: mit einer Babypuppe im Arm. Ein starkes, nachdenkliches Bild. Daniele Rustioni setzt diesem szenischen Fragezeichen mit den Mitteln der Musik ein dialektisches Ausrufezeichen entgegen, lässt sein famoses Orchester nun strömen, dass eine Wonne ist.

Opéra de Lyon
Strauss: Die Frau ohne Schatten

Daniele Rustioni (Leitung), Mariusz Treliński (Regie), Fabien Lédé (Bühne), Marek Adamski (Kostüme), Marc Heinz (Licht), Jacek Przybyłowicz (Choreographie), Marcin Cecko (Dramaturgie), Vincent Wolfsteiner, Sara Jakubiak, Josef Wagner, Ambur Braid, Lindsay Ammann, Julian Orlishausen, Giulia Scopelliti, Chor und Orchester der Opéra de Lyon

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