Stunde der Frauen: „Carmen“ an der Deutschen Oper Berlin

Deutsche Oper Berlin/CARMEN/Foto © Marcus Lieberenz

George Bizets „Carmen“ ist eine der meistgespielten Opern der Welt. Kann ein Repertoireabend da noch zu einem besonderen Moment im alltäglichen Opernzuschauerleben werden? Aber ja – dank einem Gesangstalent auf dem Weg zum großen Star in der titelgebenden Hauptrolle und einer begeisternden Überraschungs-Micaëla. (Besuchte Vorstellung am 16. Oktober 2023)

 

 

Aigul Akhmetshina ist die Carmen der Saison. War die russische Sängerin vor zwei Jahren als Polina in der Pique Dame mit den Berliner Philharmonikern, zunächst szenisch in Baden-Baden und anschließend konzertant in Berlin, noch eine echte Entdeckung, ist die Mezzosopranistin mittlerweile an den großen Opernhäusern der Welt zuhause. So singt sie die Carmen in dieser Saison nicht nur in Berlin, sondern auch an der Bayerischen Staatsoper in München, der Metropolitan Opera in New York City und dem Royal Opera House in London – und das mit Erfolg.

Aigul Akhmetshina/ Foto @ Andrey Uspensky

Akhmetshina und ihr samtig-delikates Stimmtimbre scheinen für die Rolle der Carmen wie geschaffen zu sein. Ihr Mezzosopran ist in allen Stimmlagen ausdrucksvoll, gleichzeitig weiß die Sängerin ihre Rolle mit jugendlicher Spritzigkeit und ausdrucksvoller Bühnenpräsenz zu gestalten. Mal verführerisch zurückgenommen, dann selbstbestimmt und herausfordernd, dabei immer scheinbar spielerisch leicht und elegant. In den nächsten Jahren wird sich Akhmetshinas Stimme noch weiter entwickeln, kraftvoller werden – und es wird eine Freude sein, sie dabei zu beobachten. Man kann der Mezzosopranistin nur wünschen, dass die Opernhäuser, ihr Management und letztlich sie selbst ihr die notwendige Zeit gibt, die Stimme organisch wachsen und verfeinern zu lassen. Dann scheint dem sängerischen Erfolg nichts im Wege zu stehen.

Maria Motolygina / Foto @ Deutsche Oper Berlin

Weniger bekannt aber ebenfalls eine Sängerin, die es im Auge zu behalten gilt, ist Maria Motolygina als Micaëla. Mit glänzendem Sopran und großer Projektionskraft, schwebt Motolygina förmlich über dem Orchester. Ist ihr von der Regie eher die Rolle des grauen Mäuschens in Fünfzigerjahrekleidung zugedacht, weiß die Sopranistin sich mit großer Gestaltungskraft ins Scheinwerferlicht zu singen, avanciert so zum Publikumsliebling und erntet am Ende den womöglich lautesten Applaus.

Matthew Newlin als Don José und Byung Gil Kim als Escamillo komplettieren das Hauptrollenquartett. Während Newlin seine Rolle sehr lyrisch anlegt und so sanfte Zwischentöne findet, gestaltet Kim den Escamillo mit rauem Charme und sonorer Gravitas.

Ständig wechselnd zwischen jovialer Spielfreude und bedrohlicher Vorhersehung gestaltet währenddessen Ben Glassberg sein Dirigat. Kein Klangrausch, sondern präzise und stets mit leise-kritischer Distanz zum Geschehen klingt diese „Carmen“. Dabei ist der Beginn so stürmisch-schnell, dass man während der Ouvertüre fast den Eindruck hat, dass das Orchester der Deutschen Oper sich bald überschlagen werde. Doch ehe es dazu kommt, weiß Glassberg zurückzunehmen und dennoch weiterhin ansteckenden Enthusiasmus zu vermitteln. Auch wenn die Blechbläser an der ein oder anderen Stelle die Sänger:innen etwas zuzudecken drohen, schafft Glassberg insgesamt eine gute Balance zwischen Graben und Bühne.

Deutsche Oper Berlin, copyright: Leo Seidel
Deutsche Oper Berlin, copyright: Leo Seidel

Das Geschehen auf der Bühne dreht sich derweil – im wahrsten Sinne des Wortes – um eine sich drehende Stierkampftribüne. Regisseur Ole Anders Tandberg verlegt die „Carmen“ irgendwo in die heutige Zeit. Hier ist die Hauptfigur weniger verführende Männerfantasie als kalkulierende Strippenzieherin, das rote Flamenco-Kleid eher eine Hommage an all die gewesenen Carmen-Inszenierungen denn Referenz an das Bühnengeschehen. Geschmuggelt wird in dieser Welt nicht Hehlerware, sondern blutige Organe und so geht die Liebe auch gerne mal durch die Eingeweide. Erst sind Nieren das Objekt der Begierde, am Ende reißt Don José Carmen wortwörtlich das Herz heraus. Das klingt jedoch auf dem Papier aufregender, als es sich auf der Bühne darstellt – und lädt so dazu ein, die volle Aufmerksamkeit den weiblichen Stimmen des Abends zu schenken. Denn die sind ein Genuss.

 

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