Dem modernen Regietheater deutscher Prägung wird mitunter der Vorwurf gemacht, das mit Otto Schenk und Zeitgenossen sozialisierte Publikum durch den sprichwörtlichen Kakao ziehen zu wollen, und vielleicht ist auch einigen bei der Nachricht, Händels Oratorium Theodora von 1750 würde von Regisseur Stefan Herheim ins Wiener Café Central verlegt, zumindest gedanklich das Kaffeehäferl aus der Hand gefallen.

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Theodora
© Monika und Karl Forster

Der MusikTheater an der Wien-Hausherr hat mit dem Setting allerdings eine gute Wahl getroffen, weil man damit das theatralische Potenzial des konzertant konzipierten Werks heben kann. 1996, bei Peter Sellars in Glyndebourne, hauchten die christlichen Märtyrer Theodora und ihr Retter Didymus ihre Seelen noch per Giftspritze in einem texanischen Militärgefängnis aus, und das Todesduett, das der ans Hinrichtungsbett gefesselte Didymus mit „Streams of pleasure ever flowing“ einleitet, zählt zu den großen Gänsehautmomenten von auf DVD gebanntem Musiktheater.

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David Portillo, Christopher Lowrey, Evan Hughes, Jacquelyn Wagner und Julie Boulianne
© Monika und Karl Forster

Dass diese Protagonisten bei Herheim nun Kellner sind, die zur Kündigung den Rucksack in die Hand gedrückt bekommen und den Kaffeehaus-Kosmos verlassen müssen, um danach getrennte Wege zu gehen, hat natürlich nicht denselben Effekt, zeigt aber den gesellschaftlichen Wandel seit der Entstehungszeit des Werkes (und seit der Christenverfolgung unter dem römischen Kaiser Diokletian). Für den Glauben wird zumindest in der westlichen Welt nicht mehr gestorben, dafür opfert man in den Konsumtempeln aktuell für Halloween-Deko und kann seine Überzeugungen im Privaten ausleben.

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Julie Boulianne (Irene)
© Monika und Karl Forster

Theodora ist jedoch keine, die den heidnischen bzw. römischen Göttern opfern will (auch wenn der Weihrauch im Kaffee ist). Eher will sie sterben, da sie das Erdenleben im Vergleich mit der der Verheißung jenseitigen Glücks ohnehin als hohl empfindet. Allerdings hat sie die Rechnung ohne Valens, den römischen Statthalter Antiochias gemacht, der sie in einem Bordell für ihren Ungehorsam gegenüber der Staatsreligion büßen lassen will. In dem Spannungsfeld zwischen Theodora und dem dem Statthalter (bei Herheim ein schurkischer statt grantelnder Oberkellner) bewegen sich Septimius, der klassische Mitläufer-Typ, welcher zwar der Obrigkeit gehorcht, jedoch Mitleid mit den Christen fühlt, der Menschenfreund Didymus, der zu Theodoras Retter wird und mit ihr stirbt, und Irene, die Rettung im Gebet sucht. Alle sind sie Untergebene des Oberkellners, und erdulden dessen teils sexuell explizite Avancen, wobei er sich bei Septimius am weitesten vorwagen darf. Das internationale Kaffeehauspublikum ringsum reflektiert teilweise die Stimmungen, teilweise laufen private Befindlichkeit und öffentliche Meinung auch auseinander, da speziell Theodoras Weltsicht nicht immer Widerhall in der Masse findet, wohingegen Irene die Massen bewegen kann.

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Christopher Lowrey (Didymus), Evan Hughes (Valens) und Jacquelyn Wagner (Theodora)
© Monika und Karl Forster

Und es wird nicht nur das Kaffeehauspublikum auf der Bühne, sondern auch das Publikum in der Halle E des Museumsquartiers bewegt: Diese Regiearbeit ist handwerklich so gut gemacht, dass die verschiedenen Emotionen nicht nur durch die wunderbare Musik, sondern eben auch durch die Personenregie unmittelbar erfahrbar sind. Dazu gibt das Café Central mit seiner kathedralenartigen Architektur und den „Hoffnungsstrahlen“, die die Sonne durch die Fenster schickt, einen reizvollen Hintergrund ab, zusätzlich lässt Bühnenbildnerin Silke Bauer hinter den Fenstern auch andere Perspektiven als die Herrengasse zu: je nach Stimmung etwa einen Nachthimmel oder paradiesische Palmen.

Die Auf- und Abtritte des Chors bzw. der Kaffeehausgäste gestalten sich in diesem Ambiente ganz natürlich, womit der Arnold Schoenberg Chor einmal mehr Gelegenheit zu brillieren hat, auch wenn Herheims Ansprüche hoch sind: zwischen den Einsätzen ist viel an Schauspielarbeit – auch exponiert an der Rampe – zu leisten, und die Aufstellung nach Stimmgruppen ist in diesem Konzept natürlich auch unmöglich, für dieses aber Ensemble kein Hindernis. Für die musikalische Basis sorgte das La Folia Barockorchester unter der Leitung von Bejun Mehta, von den Salzburger Festspielen 2009 noch als ergreifender Didymus in Erinnerung. Hier ist jemand Kompetenter am Werk, der mit den Solistinnen und Solisten auch die obligaten Verzierungen und Kadenzen ausgearbeitet hat und von dessen Erfahrung man profitieren kann.

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Jacquelyn Wagner (Theodora)
© Monika und Karl Forster

Unter diesen Umständen ist es ein wenig verwunderlich, dass Julie Boulianne gerade mit dem Highlight des Werks, Irenes „As with rosy steps the morn“ nicht restlos überzeugte. Gleich zu Beginn der Arie ist dabei ein großer vokaler Bogen von fast wagnerianischer Qualität zu schmieden, was so erst gar nicht versucht wurde. Auch wenn sie über eine volle und schön timbrierte Stimme verfügt, war sie vielleicht nicht die Idealbesetzung, denn ähnlich den Evangelisten in den Passionen steht dieser Partie ein geradlinigerer Ansatz besser als opernhafte Opulenz. Nichtsdestotrotz wurde sie vom Publikum am lautesten bejubelt – was vielleicht dem Umstand geschuldet ist, dass Irenes Musik besonders berührend ist. Exzellent war Jacquelyn Wagner als Theodora, deren Entrücktheit und Blick aufs Jenseits sie so überzeugend darstellte wie sang – auch wenn ihr Gefängnis/Bordell ein Billardtisch war.

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Jacquelyn Wagner (Theodora)
© Monika und Karl Forster

Die koloraturenreiche Partie des Valens war bei dem Figaro-erprobten Bassbariton Evan Hughes gut aufgehoben. Er beeindruckte mit Bühnenpräsenz und regiebedingtem Sinn für Komik, welche die Musik mit ihren Stimmungswechseln trotz des überwiegenden Moll hergibt. Als Septimius gefiel David Portillo mit schön geführtem Tenor und sauberen Koloraturen. Countertenor Christopher Lowrey beherrscht sein Stimm-Handwerk technisch perfekt. Dem Timbre mag die Prägnanz fehlen, doch das ist bei Countertenören Kritik auf höchstem Niveau.

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