Wenn der Vorhang hochgeht, blicken wir auf einen Friedhof in Buenos Aires. Die Rückwand besteht aus einer hohen Mauer, in die mehrere Reihen von Grabkammern eingelassen sind. Im Vordergrund ist ein Sarg zu sehen. Zu den Klängen eines langsamen Tangos defiliert eine Gruppe vornehm gekleideter Damen und Herren vorbei und legt rote Rosen auf den Sarg nieder. Plötzlich öffnet sich der Deckel, und dem Sarg entsteigt eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren in einem roten Kleid. Sie klettert die Mauer hoch und legt sich in eine der noch freien Grabkammern.

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María de Buenos Aires
© Carole Parodi

Die Frau ist María, die Titelfigur in Astor Piazzollas Tango-Oper María de Buenos Aires. Am Grand Théâtre von Genf wird sie als Neuproduktion gezeigt. Das 1968 in Buenos Aires uraufgeführte Bühnenstück ist seit 1999 durch die italienische Sängerin Milva auch in Europa heimisch geworden, konnte sich aber bis heute keinen festen Platz im Repertoire behaupten. Denn mit seiner kleinen Besetzung aus Tango-Ensemble und wenigen Protagonisten eignet sich das Stück wenig für grosse Häuser. In Genf hat man sich an María de Buenos Aires gewagt, weil man mit dem argentinisch-schweizerischen Dirigenten Facundo Agudín und dem Regisseur Daniele Finzi Pasca ein Team ins Boot geholt hat, dem man diese Aufgabe zutraute. Die von Pasca mitbegründete Compagnia Finzi Pasca machte am Grand Théâtre bereits 2019 mit der Oper Einstein on the Beach von Philip Glass auf sich aufmerksam. 

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María de Buenos Aires
© Carole Parodi

Agudín hat das für Bandoneon, Violine, Gitarre, Klavier, Flöte, Cello, Kontrabass und Perkussion komponierte Ensemble zu einer Orchesterversion erweitert, die im Kern ein Streichorchester hinzufügt. Neben Spezialisten wie dem Bandaneon-Spieler Marcelo Nisinman oder dem Gitarristen Quito Gato wirken im Orchestergraben Dozierende und Studierende der Genfer Haute école de musique mit. Als Dirigent zeigt sich Agudín als profunder Kenner dieser Klangwelt. In den siebzehn Stücken dieser „Nummernoper” bringt er nicht nur die verschiedenen Formen des Tangos – von den Vorläufern bis zum Tango Nuevo – zum Klingen, sondern erweckt auch Piazzollas Ausflüge in den Jazz, die Unterhaltungsmusik und, ja, die klassische Musik zu blühendem Leben.

Um was geht es inhaltlich? Die Geschichte wird vom Duende (einem Geist) und vom Payador (einem Minnesänger) erzählt: María, in einem Armenviertel von Buenos Aires geboren, begibt sich in die Innenstadt, wo sie von der Musik des Tangos verführt wird. Sie arbeitet nun als Sexworkerin. Diebe und Bordellbesitzer, vereinigt in einer Schwarzen Messe, beschliessen ihren Tod. Sie wird in die Hölle verdammt, die aber gleichzeitig wieder Buenos Aires ist. Als Schatten wandelt sie durch die Strassen der Stadt. Wieder Jungfrau geworden, wird sie durch den Befehl des Duende von drei Marionetten geschwängert. Am Weihnachtstag gebiert sie ein Mädchen, dem sie den Namen María gibt. Die Anspielungen auf das Lukas-Evangelium sind durchaus beabsichtigt.

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María de Buenos Aires
© Carole Parodi

Diese Story ergibt sich aus dem völlig surrealen und doch sehr poetischen Text des Librettisten Horacio Ferrer, der auf Spanisch gesungen und mit französischen Übertiteln versehen wird. Eine echte Herausforderung für ein deutschsprachiges Publikum. Der Inhalt wird indes nicht eins zu eins szenisch präsentiert, sondern in starke, assoziative Tableaux umgesetzt. Beispielsweise tritt María nicht als Prostituierte in Erscheinung. Sondern es sind zwei Doubles von ihr, die an zwei Stangen einen akrobatischen Tabledance ausführen, der von pelzmanteltragenden Männern begafft wird.

Der folgenschwerste Eingriff des Regisseurs in das Stück besteht darin, dass alle Gesangs- und Sprechrollen von Frauen besetzt sind. Ist der Payador im Original ein Tenor, der sich in María verliebt, geht dieser heteroerotische Aspekt in Genf verloren, beziehungsweise weicht einer homoerotischen Konstellation. In die Rolle des Duende teilen sich gleich zwei Frauen, die als eine Art von Alter Ego Marías auftreten. Auch hier geht die Geschlechterpolarität verloren. Die portugiesische Sopranistin Raquel Camarinha zeichnet die Titelfigur als sensible Persönlichkeit. Obwohl sie vom klassischen Gesang herkommt, gelingt ihr das Tango-Idiom recht gut. Was ihr an südamerikanischem Temperament ein bisschen fehlt, zeichnet dafür Inés Cuello in der (weiblichen) Rolle des Payador aus. Die Schauspielerinnen Melissa Vettore und Beatriz Sayad von der Compagnia Finzi Pasca verleihen dem Duende einen ambivalenten Charakter.

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María de Buenos Aires
© Carole Parodi

Für das Auge wird in Genf Spektakuläres geboten. Der Bühnenbildner Hugo Gargiulo hat eine überbordende Fantasie: Die Weihnachtsszene beispielsweise lässt er auf einem Eisfeld spielen, und der Schnee darf dabei auch nicht fehlen. (Das ist natürlich mehr eine schweizerische als eine argentinische Deutung.) Die Kostüme von Giovanna Buzzi treffen den surrealen Charakter des Stücks bestens und scheuen auch vor humoristischen und ironischen Brechungen nicht zurück. In der Hölle sind es ausgerechnet weissgekleidete Engel mit kitschigen Flügeln, die María und ihre Doubles auf Spitalbetten herumstossen. Von grossem Einfallsreichtum zeugt die Choreographie von Maria Bonzanigo, seit bald vierzig Jahren künstlerische Partnerin von Daniele Finzi Pasca. Sie sorgt dafür, dass die sechs Tänzerinnen und Akrobaten der Compagnia zu viel mehr fähig sind als zum Tanzen eines Standard-Tangos. Und die Choristen des Cercle Bach de Genève und den Chor der Haute école de musique hält sie lustvoll in Bewegung.

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María de Buenos Aires
© Carole Parodi

In der Schlussszene der anderthalbstündigen Oper schliesst sich der Kreis: Wiederum sehen wir den Sarg, wiederum zieht die Trauergemeinde daran vorbei. Aber statt Rosen legen die Männer und Frauen nun hochhakige rote Schuhe auf den Deckel. Doch der Sarg ist leer. María hat inzwischen ihr Kind geboren, ein Mädchen, das ebenfalls María heisst. Die Mutter María, der Payador, die beiden Duendes und die neugeborene Tochter stehen vor dem Sarg und singen die Schlussverse, das Orchester begleitet mit dem „Tangus Dei”.


Die Pressereise (Zugfahrt und Hotel) von Thomas Schacher wurde vom Grand Théâtre de Genève bezahlt.

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