Liebe gegen politischen Aktivismus
Von Thomas Molke /
Fotos: © Clive Barda
Camille Erlanger ist als Komponist heutzutage genauso unbekannt wie seine
Werke. Dabei begann seine Karriere am Ende des 19. Jahrhunderts recht
vielversprechend. 1888 gewann er den Prix de Rome mit seinen lyrischen Szenen
unter dem Titel
Velléda.
Es folgten mehrere Opernuraufführungen in Paris, und die
namhaften Stars der damaligen Zeit schmückten die Besetzungszettel seiner Werke.
Doch außerhalb Frankreichs konnte Erlanger nicht Fuß fassen. Selbst sein größter
Erfolg in Paris, Le Juif polonais, floppte in Wien, als Gustav Mahler das
Werk dort voller Begeisterung auf den Spielplan stellte. Ab 1906 ließ dann auch das Interesse an seinen
Opern in Paris ein wenig nach, und die weiteren Uraufführungen kamen andernorts
in Frankreich heraus. In diese Phase fällt auch sein Drame lyrique L'Aube
rouge, das am 29. Dezember 1911 in Rouen Premiere feierte. Dem Werk war kein
großer Erfolg beschieden, und es verschwand schnell von den Spielplänen. Da die
Oper inhaltlich zum Thema des diesjährigen Festivals, Women and War,
passt, hat sich Rosetta Cucchi entschieden, das Stück in Wexford
wiederzuentdecken.
Olga (Andreea Soare, Mitte) ist ins Lager der
Rebellen gekommen (von links: Danilo (Rory Lynch), Tatiana (Hanna O'Brien),
Vassili (Thomas Birch), Kouraguine (Giorgi Manoshvili), Yvan (Gabriel Seawright)
und Natacha (Emma Jüngling)).
Wenn man auch bei vielen beliebten Opern des gängigen
Repertoires die erzählte Geschichte hinterfragen kann, geht es in Erlangers
L'Aube rouge aber so weit, dass die zahlreichen Logiklöcher auch nicht durch
die beste Musik gestopft werden könnten. Das beginnt bereits damit, dass man gar
nicht nachvollziehen kann, was das Liebespaar der Oper, Olga und Serge,
eigentlich verbindet. Serge ist ein junger Student, der in St. Petersburg zum
Anführer einer Gruppe von Anarchisten gewählt wird. Olga ist die Tochter des
Generals Lovarof, der zu den Hauptfeinden der Rebellen gehört. Wieso sich Olga
im ersten Akt überhaupt ins Lager der Feinde begibt und Serge sich in sie
verlieben soll, ist kaum nachvollziehbar. Dass sie die Gruppe vor der anschließenden
Verhaftung durch russische Polizisten rettet, macht dann wenigstens etwas Sinn.
Danach kommt es im zweiten Akt allerdings zu einem Zeitsprung mit wichtigen Ereignissen,
die lediglich nebenbei erwähnt werden. Man sieht Olga als zukünftige Braut des
Franzosen Paul de Ruys. Dass ihr Vater sie zu dieser politischen Liaison hat
überreden können, weil er ihr eingeredet hat, dass ihr Geliebter Serge verhaftet
und getötet worden sei, erfährt man nur beiläufig, als Serge, warum auch immer,
bei der anstehenden Hochzeit auftaucht und seine Geliebte zur Rede stellt. Jedenfalls fliehen die beiden dann nach Paris, wo sie wieder auf die
ehemaligen Rebellen treffen, die nun einen Mordanschlag auf den verhassten
russischen Grand Duc Grégorieff planen, der in Paris erwartet wird. Dass Olga
per Los den Namen des Attentäters ziehen soll und natürlich Serges Namen zieht,
ist dramaturgisch genauso dünn wie die Tatsache, dass Vassili seinen Freund
Serge niederschießt, als dieser sich aus Liebe zu Olga weigert, das Attentat
zu verüben.
Olga (Andreea Soare) und Serge (Andrew Morstein)
haben Zuflucht in Paris gefunden.
Es folgt der einzige wirklich dramatische Moment in der
Opernhandlung. Olga und Kouraguine bringen den verwundeten Serge in ein
Krankenhaus, in dem Olgas ehemaliger Verlobter Paul als Chefarzt tätig ist. Er
ist der einzige, der Serge retten kann, und entscheidet sich nach einigem Zögern,
seine Berufung als Arzt ernster zu nehmen als seine persönlichen Gefühle. Nun
stünde einem Happy End eigentlich nichts mehr im Weg, aber aus einem in keiner
Weise nachvollziehbaren Grund entscheidet sich Serge jetzt, nachdem ihm das
Leben gerettet worden ist, als Selbstmordattentäter doch noch den zunächst
verweigerten Auftrag auszuführen, weil er plötzlich glaubt, als Märtyrer dafür
bestimmt zu sein. So stellt er seine politischen Ziele über seine Liebe zu Olga,
die bei der Explosion am Himmel die rote Dämmerung sieht und weiß, dass sie
ihren Geliebten Serge verloren hat. Entseelt bricht sie zusammen und folgt ihm
in den Tod.
Vassili (Thomas Birch, am Tisch stehend) will das
Los entscheiden lassen, wer das Attentat verüben soll (am Tisch sitzend von
links: Yvan (Gabriel Seawright),
Danilo (Rory Lynch),
Tatiana (Hanna O'Brien),
Sonia (Ava Dodd) und Kouraguine (Giorgi Manoshvili), auf der Treppe im
Hintergrund: Serge (Andrew Morstein)).
In dieser Geschichte auch nur
ansatzweise Parallelen zu Shakespeares Romeo und Julia
zu sehen, wie die Regisseurin Ella Marchment im Programmheft erläutert, ist sehr weit hergeholt. Natürlich stammen die beiden Liebenden aus
verfeindeten Lagern, die politisch gegensätzliche Interessen verfolgen. Das
Liebespaar unterliegt aber keineswegs den Zwängen, denen Romeo und Julia bei
Shakespeare ausgesetzt sind. Im Gegenteil hat Olga die Freiheit, die Seiten zu
wechseln. Einer glücklichen Beziehung stehen sie schlussendlich also nur selbst
im Weg. Dass Serge am Ende seine Liebe für seinen politischen Aktivismus opfert,
nachdem er sich erst geweigert hat, aus Liebe zu Olga das Attentat zu verüben,
lässt keine Bezüge zu Romeos Handeln erkennen, der für seine Liebe und nicht für
eine politische Überzeugung in den Tod geht. Was macht man also mit einem
solchen Stück, das überhaupt nicht nachvollziehbare Charaktere enthält? Marchment entscheidet sich dafür, einfach die Geschichte zu erzählen und nicht
weiter zu versuchen, die Logiklöcher zu stopfen. So sieht man zumindest eine
librettonahe Umsetzung, die die Schwächen des Stückes umso deutlicher macht.
Olga (Andreea Soare) erkennt, dass sie Serge
verloren hat (auf der linken Seite: Kouraguine (Giorgi Manoshvili)).
Um die zahlreichen Szenenwechsel zu ermöglichen, wählt Holly
Pigott ein flexibles Bühnenbild, das aus mehreren Treppenelementen besteht, die
in den einzelnen Akten durch unterschiedliche Anordnung den jeweiligen neuen
Handlungsort anzudeuten. Im ersten Akt bilden diese Treppen eine ärmliche
Unterkunft, in der die Rebellen ihren Widerstand gegen die korrupte russische
Gesellschaft planen. Eine riesige Tonne fungiert als Herd, in dem das nur noch
in Form von Stühlen vorhandene Holz verbrannt wird, um im Raum ein bisschen
Wärme zu schaffen. Mit hohen Wänden und zahlreichen Luftballons im Hintergrund
wechselt man dann im zweiten Akt in einen opulenten Saal, in dem Olga mit Paul
Hochzeit feiern soll. Etwas spartanischer ist dann wiederum die Unterkunft in
Paris im dritten Akt angelegt, in der Olga und Serge Unterschlupf finden. Die
hohen Wände kommen dann wieder in der anschließenden Krankenhausszene zum
Einsatz. In den Umbauphasen sieht man in einer Videoprojektion eine
Zeitschaltuhr ablaufen, die die bevorstehende Explosion am Ende der Oper
anzeigt. Der letzte Akt zeigt dann eine Gegend mit heidnischem Kult, wobei man
gar nicht versteht, wieso es Olga und Serge mit ihren ständigen
Bekenntnissen zu Gott hierhin verschlagen hat. Tänzerinnen und Tänzer
vollführen zu einer langen Zwischenmusik einen heidnischen Tanz um ein Feuer,
bei dem auch eine Holzfigur verbrannt wird. In den Armen dieser Tänzerinnen und
Tänzer bricht Olga nach dem Tod Serges leblos zusammen.
Immerhin entschädigt Erlangers Musik für die Schwächen der
Geschichte. Die Partitur ist sehr gefällig und baut an einigen Stellen große
dramatische Bögen auf, bleibt allerdings nicht im Ohr. Christophe Manien, der ab
der zweiten Aufführung die musikalische Leitung des Wexford Festival Opera
übernommen hat, arbeitet die unterschiedlichen Klangfarben mit
Fingerspitzengefühl heraus. Als Olga glänzt Andreea Soare mit kräftigem Sopran
und sauber ausgesungenen dramatischen Höhen. Andrew Morstein kann als ihr
Geliebter Serge nur bedingt mithalten. In der Mittellage verfügt er über
einen strahlenden Tenor, der in den Höhen jedoch bisweilen etwas dünn wird. Ein
weiterer musikalischer Glanzpunkt des Abends ist Giorgi Manoshvili als
Kouraguine, der mit profundem, dunklem Bass punktet. Man wundert sich, dass
Erlanger nicht auch Vassili als Bass- oder zumindest Bariton-Partie angelegt
hat, sondern ihn in den gleichen strahlenden Höhen wie Serge zeichnet. Bei
seinem Charakter hätte man eine dunklere Stimmfärbung erwartet. Thomas Birch
gestaltet die Partie mit sicheren Höhen. Auch die übrigen Partien sind gut
besetzt, so dass zumindest die musikalische Umsetzung großen Beifall verdient.
Für die Schwächen des Stückes kann das Ensemble nichts.
FAZIT
Bei manchen Werken hat es einen berechtigten Grund, dass sie in Vergessenheit
geraten sind. Auch wenn das Stück gut zum Festival-Thema "Women and War" passt,
dürfte es wohl kaum für weitere Wiederbelebungsversuche reichen.
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Wexford Festival Opera 2023
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Guillaume Tourniaire /
*Christophe ManienInszenierung
Ella Marchment Bühne und Kostüme
Holly Pigott Choreographie
Luisa Baldinetti Licht
Daniele Naldi Chorleitung
Andrew Synnott Orchester des Wexford Festival Opera Chor
des Wexford Festival Opera Solistinnen und Solisten
Olga
Andreea Soare
Serge
Andrew Morstein
Natacha / Sœur Therese
Emma Jüngling
Sonia
Ava Dodd
La Comtesse / Sœur Marthe
Dominica Williams Kouraguine
Giorgi Manoshvili Pierre de Ruys
Philippe-Nicolas Martin Le Grand Duc Grégorieff
Rory Musgrave Vassili / Un Chanteur Napolitain
Thomas Birch Dame 1
Ami Hewitt Dame 2
Leah Redmond Dame 3
Corina Ignat Dame 4
Judith Le Breuilly Le Général Lovarof
Connor Baiano Tatiana
Hannah O'Brien Un Capitaine / Un Interne
Anrii Kharlamov Danilo
Rory Lynch Yvan
Gabriel Seawright Une autre voix
Vladimir Sima Tänzerinnen und Tänzer
Roberto Capone
Andrea Bassi
Yaimara Gomez Fabre
Miryam Tomé
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