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NÜRNBERG/Staatstheater: MATHIS, DER MALER

26.10.2023 | Oper international

NÜRNBERG / Staatstheater: MATHIS DER MALER
21.10. 2023 (Werner Häußner)

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Copyright: Pedro Malinowski

Die Bühne ein weißer Kasten, darin ein Mann in unbeflecktem Weiß vor einer gewaltigen Leinwand: Mathis der Maler in der Bühne von Mathis Neidhardt am Staatstheater Nürnberg. Doch das Licht ist nicht klar und hell, sondern diffus und dunstig, gebrochen wie der Geist des Künstlers. „Des Zweifels Pein“ reißt ihm tagtäglich neue Wunden auf. Und die Unversehrtheit des Raumes wird bald durchkreuzt: Ein Mädchen, ein halbes Kind noch, schleift einen Mann herein, der eine Blutspur hinter sich herzieht, den verletzten Bauernführer Schwalb.

Wir sind im Bauernkrieg, zehn Jahre nach der Zeit, in der ein Künstler den Isenheimer Altar schuf, dessen Name und noch mehr dessen Biographie wie ein Phantom sind: Matthias Grünewald oder Mathis Gothart Nithart ist schwer historisch fasslich und damit eine ideale Vorlage für Paul Hindemiths Künstleroper. In Nürnberg verlegt Regisseur Jens-Daniel Herzog die Parabel über den Selbstfindungsprozess eines Künstlers, über die Spannung zwischen der Autonomie der Kunst und ihrer gesellschaftlichen und politischen Rolle in eine halb realistisch, halb stilisiert aufgefasste Gegenwart. Die Kostüme von Sibylle Gädeke porträtieren Demonstranten in Warnwesten, Klimakleber und Schicki-Micki-Oberschicht. Albrecht von Brandenburg taucht als römisch-katholischer Bischof in korrekter Soutane auf, modriger Pegida-Charme trifft auf Greta Thunberg.

Brisanz will Herzog erreichen, indem er die Figuren, die sich bei Hindemith von ihren historischen Biografien ins Sinnbildliche hinein lösen, durch einen filmischen Vorspann (Rebecca Riedel, Coco Bayer) zwischen Achtundsechziger-Straßengewalt und Siebziger-Jahre-Kommune verortet. Mathis, der junge Künstler, liiert mit Ursula, der feministisch angehauchten Tochter aus gutem Hause. Albrecht, der Theologiestudent, der beim Dreier im Bett abblitzt und in der Kirchenhierarchie Karriere macht. Schwalb, der nicht aus seinem Revoluzzer-Dasein hinausfindet. Das ist schlüssig erzählt und öffnet dem Geschehen auf der Bühne einen Verständnishorizont.

Aber so beklemmend die Bilder sind, die Herzog findet: Sie hängen schief. Sicher ist es erschütternd, wenn schwer bewaffnetes Sicherheitspersonal gewalttätige Demonstranten in einer Saalschlacht im flackernden Streulicht blauer Polizeileuchten niedermetzelt. Aber welche gesellschaftliche Rebellion ist hier gemeint? Die der friedlichen „Friday for Future“-Bewegung wohl nicht. Und dass sich linke Gewalttäter für soziale Gerechtigkeit einsetzen, ist eher ins Reich des Mythos einzuordnen. Da hilft auch die provokant eingeschobene Rede eines Mannes nichts, der vorher im Abfall nach Essbarem gesucht hat. Der Schauspieler Nicolas Frederick Djuren fragt das Publikum unbehaglich aggressiv nach dem Preis der Eintrittskarten und nach der Zahl der jährlichen Urlaube, von denen er in prekären Verhältnissen nicht einmal träumen könne.

Der Aktualisierungsversuch Herzogs bleibt also ambivalent: Sein Setting erkennt an, dass verhärtete soziale und ideologische Gegensätze damals wie heute zu katastrophalen Ausbrüchen führen. In diesen starken Massenszenen, in denen der Chor großartige Auftritte hinlegt, drohen aber die Individuen unterzugehen, die Herzog im Film so eindrücklich exponiert hat. Samuel Hasselhorn macht als stimmlich wie szenisch kraftvoll präsenter Mathis die Entwicklung des zweifelnden, in seinem Streben nach gesellschaftlichem Engagement scheiternden Künstlers eindrücklich spürbar. Aber Zoltan Nyari kann als Albrecht von Brandenburg die Wandlungen des Kardinals zwischen Opportunismus und Selbstreflexion nicht deutlich genug nachzeichnen.

Auch Martin Platz profiliert den geschmeidig taktierenden Rat des Kirchenfürsten, Wolfgang Capito, nicht ausreichend. Spannend wäre auch ein vertiefter Blick auf die Frauen gewesen, die als Opfer der Gewalt und Objekte maskuliner Machtspiele kaum eine Chance auf Selbstbehauptung haben: Die Patriziertochter Ursula Riedinger, enttäuscht von ihrem Geliebten und Schachfigur in einem Deal, um den geistlichen Landesherrn auf die Seite der Protestanten zu ziehen, wählt den Weg des Rückzugs aus der Welt – eindrucksvoll gesungen von Emily Newton.

Die geschändete Gräfin Helfenstein (Almerija Delic) bleibt körperlich und seelisch zerstört zurück. Und Chloë Morgan als Regina zeigt, wie ein Mensch an der Schwelle seines erwachsenen Lebens an traumatischen Erfahrungen verlischt. Bei allem Willen zum Statement: Befragt man die Bilder über den ersten Aktualitätsimpuls hinaus, führen sie nicht weiter. Die behauptete Zeitgenossenschaft des Theaters erschließt keine vertieften Dimensionen. Mehr Stilisierung hätte geholfen, im Gleichnishaften von Hindemiths Werk eine von tagespolitischen Reizbildern unabhängige, deswegen aber nicht minder aktuelle und betroffen machende Geschichte zu entdecken.

Denn auch Hindemiths Musik hütet sich, allzu tagesaktuell zu klingen. Mit seiner Hinwendung zu traditionellen Formen der europäischen Musik, von barocken Tanzmodellen bis zur klassischen Sonatenform, hat sich der Komponist Vorwürfe zugezogen. Aber die formale Strenge will nicht auf die Zeit der Renaissance und der Reformation verweisen – dafür sind eher die Zitate aus dem „Altdeutschen Liederbuch“ von Franz Magnus Böhme eingeflochten. Hindemith hat eher die Absicht, eine musikalische Ordnung zu entwickeln, die sich unter anderem an Augustinus‘ Traktat „de musica“ und an der „musica mondana“ des Boethius orientiert – auf letzteren verweist dann auch Hindemiths Spätwerk „Die Harmonie der Welt“.

Musikalische Ordnung gilt Hindemith als Abbild einer höheren Ordnung, aus der eine autonome Grundlage des Komponierens entwickelt werden kann. So will Hindemith die Musik dem Tagesgeschäft entziehen; gleichzeitig dient dieses Konzept dazu, seinen Opernfiguren eher einen sinnbildlichen Charakter zu geben. In Nürnberg überdecken die starken sinnlich-aktuellen Bildreize diese Intention. Auch Dirigent Roland Böer und die Staatsphilharmonie Nürnberg scheren sich nicht allzu intensiv und diese Intention, sondern suchen eher die expressionistischen und überwältigenden Seiten von Hindemiths oft als spröde getadelter Musik.

Dass die formalen Finessen dann im in der fiebrigen Entladung der Klänge und oft in überbordender Lautstärke untergehen, ist ein bedauerlicher Kollateralschaden eines solch zupackenden Zugangs. Wie es anders geht, demonstriert Böer mit dem Orchester in Momenten filigraner formaler Sensibilität. Am Ende kauert Mathis, zu seiner Berufung als Maler zurückgefunden, in einem leeren, golden leuchtenden, bühnengroßen Rahmen: Die Frage nach der gesellschaftlichen Rolle der Kunst bleibt ungelöst und konzentriert sich auf die Person des Künstlers. Bei ihm liegt die Verantwortung. So stellt Jens-Daniel Herzog die große Frage des Stücks noch einmal in aller Offenheit und entlässt den Zuschauer damit in einen perspektivischen Raum des Nachdenkens.

 

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