Marten (erhobene Hand), Nils Holgersson (rote Mütze) und das Wildgänse-Ensemble

Kein tierquälender Rotzlöffel

Elena Kats-Chernin: Nils Holgerssons wundersame Abenteuer

Theater:Komische Oper Berlin, Premiere:12.11.2023 (UA)Regie:Ruth Brauer-KvamMusikalische Leitung:Erina Yashima

Regisseurin Ruth Bauer-Kvam inszeniert „Nils Holgerssons wundersame Abenteuer“ an der Komischen Oper. Das Haus beweist erneut seine deutschlandweit herausragende Expertise in Sachen Kindermusiktheater.

Natur ist kein effektvolles Event, darin besteht ihre einzigartige Wirkung: Das wusste schon Selma Lagerlöf 1905, als sie den Auftrag des schwedischen Lehrerverbands erhielt, ein zeitgemäßes Lesebuch für den Heimatkundeunterricht zu schreiben. Es sei „nicht die allerleichteste Sache, neunjährigen Kindern die Natur unseres Landes zugänglich zu machen“. In ihrer Schilderung des guten und schlechten Handelns von Mensch und Tier war Lagerlöf jeglicher Naturkitsch fern. Und er bleibt es bei den Bildideen in der Komischen Oper im Schillertheater.

Das Bühnenbild von Alfred Peter nimmt dem vermeintlich bunten Knallbonbon des Genres „Kinderoper“ die Buntheit. Es schildert die karge Natur des Nordens – die aus Sicht der Wildgänse nicht selten aus undurchdringlichen Nebelwänden und grauem Eismeer besteht. Das kann dann auch augenzwinkernd von originellen Kostümen flankiert werden. Alfred Mayerhofer kleidet das Gesangsensemble der Wildgänse als bodenständige Pilotinnen und Piloten mit Lederhauben ein – während die verwöhnte Hausgans Marten (der Berliner Tenor Ferdinand Keller) wie ein Lakai des Ancien Régime kostümiert ist. Und man erfreut sich an den bedrohlichen Ratten, die durch den bestens einstudierten Kinderchor des Hauses (Leitung Dagmar Barbara Fiebach) mit lebensechten Tiermasken gestaltet werden – oder an dem ebenso auftretenden, nicht zuletzt stimmlich respekteinflößenden Adler Olle (Bass Philipp Meierhöfer), dem Nils Holgersson im zweiten Teil ein geraubtes Kind entreißt.

So vollbringt man das Kunststück, nicht disneyhaft Tiere zu vermenschlichen, man spricht feiner Beobachtende an und zeigt, dass die Komische Oper das Genre Kinderoper immer als Vergnügen für mehrere Generationen begreifen möchte. Das gelingt.

Zwischen Naturalismus und Zeichenhaftigkeit

Auch der wendige, stimmlich durchschlagkräftige und mühelose Tenor Caspar Krieger in der Rolle des Nils Holgersson kann mit Gewinn aus Perspektive jüngerer wie älterer Zuschauender betrachtet werden – wohlgemerkt: Zuschauender der Gegenwart. Er ist nie der tierquälende Rotzlöffel, zu dem das autoritäre Zeitalter von Lagerlöf seine Kinder wohl ganz von selbst machte. Man sieht ihn anfangs als verunsicherten Pennäler in einem kastenartigen Bildausschnitt der Bühne. Ein Junge, der nicht weiß, zu welchem Zweck er die Dinge tun soll, die man aus Sicht von Eltern als Kind so tut. Dann verwandelt ihn die Stimme des Wichtels in einen ebensolchen Wichtel, und der Ausschnitt wird zur ganzen Bühne geöffnet – durch diesen Trick wirkt der Titelheld tatsächlich kleiner. Die Kinder im Publikum verstehen diesen zwischen Naturalismus und Zeichenhaftigkeit changierenden Trick durchaus.

„Nils Holgerssons wundersame Abenteuer“ an der Komischen Oper

„Nils Holgerssons wundersame Abenteuer“ an der Komischen Oper. Foto: Jaro Suffner

Der Spielstättenwechsel ins Schillertheater ist ein Risiko in Sachen Publikumszuspruch für das Opernhaus. Deshalb braucht die Komische Oper eine anziehungskräftige Kinderopern-Produktion sehr dringend. Das erneute Engagement der usbekisch-australischen Komponistin Elena Kats-Chernin ist da kein Selbstläufer. Immerhin komponierte Kats-Chernin 2019 für die Komische Oper einen „Jim Knopf“ entlang heftiger textlicher und musikalischer Klischees.

Schwebende Musik

Um so erstaunlicher ist, was ihr jetzt mit der Komposition von „Nils Holgersson“ gelingt. Musikalisch ist das keine Dosenkost. Kats-Chernin schafft eine schwebende, luftige Musik, von viel harmonischen Finessen durchdrungen, immer nah an Gesang und Melodie – und in keinem Moment populistisch und allzu eingängig. Aus den Standardsituationen der romantischen Opernliteratur bis zum amerikanischen Kurt Weill entnimmt sie stilistische Aspekte, ohne eine eigene Handschrift vermissen zu lassen.

Den seinen Körper artistisch beherrschenden Tenor Johannes Dunz in der Rolle des Fuchses Smirre führt die Komponistin im Verein mit der Dirigentin Erina Yashima und der Regisseurin Ruth Brauer-Kvam als verhinderten Wagnerschen Helden vor. Das bewährte Ensemblemitglied Alma Sadé als verliebte Gänsin Daunenfein darf einen Liebeswalzer anstimmen. Die Komische Oper beweist ihre deutschlandweit herausragende Expertise in Sachen Kindermusiktheater im großen Format.