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Opern-Kritik: Staatsoper Unter den Linden Berlin – Médée

Ausdrucksvolle Klänge treffen fahrlässige Oberflächenreize

(Berlin/Hamburg, 19./21.11.2023) Die Neuinszenierung von Marc-Antoine Charpentiers „Médée“ an der Staatsoper Unter den Linden lohnt sich wegen der musikalischen Umsetzung. Das Bühnengeschehen, das Stararchitekt Frank Gehry und Regisseur Peter Sellars verantworten, erweist sich dagegen als belanglos und wenig reflektiert. Beim Gastspiel in der Elbphilharmonie kommen indes die musikalischen Stärken vollends zum Tragen.

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Französische Barockoper ist auf Bühnen in Deutschland noch immer sehr selten anzufinden. Hin und wieder gibt es einen Rameau, fast nie einen Lully. Umso erfreulicher, dass die Staatsoper Unter den Linden im Rahmen ihrer Barocktage 2023 jetzt  „Médée“ von Marc-Antoine Charpentier als zentrale Premiere angesetzt hat. Der Komponist ist heutzutage vor allem als Urheber der Eurovisionshymne bekannt, sie wurde dem Präludium seines „Te Deum“ entlehnt. Charpentier lebte zur Zeit des „Sonnenkönigs“ Ludwig XIV., kam aber nicht wie sein Zeitgenosse Lully ans Zentrum der Macht. Stattdessen schrieb Charpentier sehr viele Sakralwerke, also in erster Linie Chorwerke, für verschiedene Pariser Kirchen, Konvente und Adelshöfe, zudem Schauspielmusik für Molière. Am Zenit seines Ruhms war der Komponist Kapellmeister der Sainte-Chapelle, die im Rang gleich nach der Chapelle Royale von Versailles kam. Opern hat Charpentier nur wenige geschrieben, vollständig überliefert ist nicht einmal eine Handvoll. Dazu zählt „Médée“ auf ein Libretto von Thomas Corneille nach dem antiken Medea-Mythos und der Tragödie des Euripides. 1693 wurde sie im Palais-Royale in Paris uraufgeführt.

Szenenbild aus Marc-Antoine Charpentiers „Médée“ an der Berliner Staatsoper
Szenenbild aus Marc-Antoine Charpentiers „Médée“ an der Berliner Staatsoper

Blutig barocker Opernstoff

Die Staatsoper Unter den Linden Berlin lockte zu ihrer „Médée“-Premiere mit großen Namen: Sir Simon Rattle am Dirigentenpult, Freiburger Barockorchester, Magdalena Kožená in der Titelpartie der Medea, Reinoud Van Mechelen als Jason, Regisseur Peter Sellars, der einst als Feuerkopf für Furore sorgte, und Stararchitekt Frank Gehry für das Bühnenbild. Die Zauberin Medea, französisch Médée, aus dem antiken Mythos ist eine extrem ambivalente Figur, sowohl Freiheitsheldin als auch Anti-Heldin, bedingungslos Liebende und grenzenlose Rächerin. Als Tyrannenmörderin flieht sie mit dem Gatten Jason und den gemeinsamen Kindern aus Kolchis nach Korinth ins Exil. Dort fordert König Créon Médée auf, sein Land zu verlassen, angeblich weil er Aufruhr fürchte. Doch der wahre Grund ist: Jason hat sich in Créons Tochter Créuse verliebt, die auch die Kinder Médées an sich nehmen will. Und Créon braucht Jason als Befehlshaber im Krieg, der vorbereitet wird.  Médée nimmt dieses Komplott nicht hin, tobt, wütet, dürstet nach Rache. Sie schenkt Créuse ein vergiftetes Kleid, an dem diese qualvoll stirbt, und tötet kaltblütig die eigenen Kinder, um Jason zu treffen. Was für ein Opernstoff!

Szenenbild aus Marc-Antoine Charpentiers „Médée“ an der Berliner Staatsoper
Szenenbild aus Marc-Antoine Charpentiers „Médée“ an der Berliner Staatsoper

Magdalena Kožená glänzt in der Titelpartie

An der Staatsoper Unter den Linden kann die Produktion von Charpentiers „Médée“ musikalisch voll und ganz überzeugen. Das lohnt allein schon den Besuch. Magdalena Kožená glänzt in der Titelpartie. Sie erweist sich als eindrucksvolle Charakterdarstellerin, die das gesamte Spektrum der Widersprüchlichkeit ihrer Figur zeigt, tiefe Trauer, Entsetzen, bedingungslose Leidenschaft, Aufbegehren, Resignation, rasenden Zorn, Rache, durchbrechenden Wahnsinn. Reinoud Van Mechelen als Jason steht dem in seiner Rollenverkörperung in nichts nach. Sein wandlungsfähiger Haut-Contre, das Stimmfach des hohen Tenors in der französischen Barockoper, bündelt mit Strahlkraft das doppelte Spiel des Jason. Dieser will Médée glauben machen, es gehe ihm sowohl um das Wohl der Nachkommenschaft als auch um politische Verantwortung. Gleichzeitig produziert er sich eitel vor Créon und Créuse. Grandios und berührend sind nicht nur die Soloarien, sondern auch die Duette in dieser Oper. Der Chorkomponist Charpentier wusste genau, wie er die Singstimmen mit Vorhalten, dezenten harmonischen Trübungen und Reibungen farbenprächtig zum Glühen bringen konnte.

Szenenbild aus Marc-Antoine Charpentiers „Médée“ an der Berliner Staatsoper
Szenenbild aus Marc-Antoine Charpentiers „Médée“ an der Berliner Staatsoper

Das Freiburger Barockorchester besticht durch zauberhaft aufgefächerte Klänge

Das insgesamt hervorragende Solistenensemble bleibt hier nichts schuldig. Zu nennen wären vor allem auch Carolyn Sampson als Créuse, deren Sterbearie ungeheuer bewegt, und Gyula Orendt als Jasons markanter Widersacher Oronte, der ursprünglich Créuse versprochen ist. Sir Simon Rattle und das Freiburger Barockorchester gestalten in relativ großer Besetzung zu Beginn des Abends ein eher pastoses Klangbild. Ein Spezialist für Alte Musik am Pult hätte womöglich noch weitere Feinheiten und Körnigkeit herausgeholt. Aber das ist Meckern auf hohem Niveau. Denn das Freiburger Barockorchester bietet wendige, federnde Fugati, im weiteren Verlauf auch vielfach aufscheinende transparente Nuancen des Orchesterklangs, zauberhaft aufgefächerte Klänge. Zu nennen wären hier etwa auch die fünffach besetzte, in subtilen Schattierungen geführte Blockflötengruppe und die immer wieder mit filigranen Ziselierungen hervortretende Basso-continuo-Gruppe. Am Ende gibt es greller gefärbte Klangräume, wenn Medea ihren Rachezauber entfesselt. Der Staatsopernchor steht dem in nichts nach, er zeigt mit Prägnanz und voller Klangkraft ein starkes Profil.

Szenenbild aus Marc-Antoine Charpentiers „Médée“ an der Berliner Staatsoper
Szenenbild aus Marc-Antoine Charpentiers „Médée“ an der Berliner Staatsoper

Was hat das Inszenierungsteam um Himmels willen hier geritten?

Regie und Bühnenausstattung an der Staatsoper erweisen sich dagegen als vertane Chance. Frank Gehry hat für die ansonsten leere Bühne ein paar unmotiviert wirkende Dekorationsobjekte entworfen: semitransparente Felsen, deren Texturen auch Bäume andeuten können, zudem Wolken aus Silberdraht, davor links und rechts Bauzäune, die im Verlauf der Handlung verschoben werden.

Diese Bauzäune sollen ein Internierungslager für Medea und andere Geflüchtete andeuten, bewacht von hochgerüsteten Grenzpolizisten, die mit Kugelwesten und Maschinengewehren und übrigem schwerem Kriegsgerät ausgestattet sind. Regisseur Peter Sellars verknüpft in seiner Inszenierung den antiken Mythos mit dem Leid Geflüchteter an der Grenze zwischen Mexiko und den USA. Mehr als belanglose Oberflächenreize werden mit dieser Lesart auf der Bühne jedoch nicht erzeugt, bedenklich und geradezu ein Ärgernis angesichts der realen kriegerischen Auseinandersetzung in unserer Zeit. Zwischendurch sollen noch diffuse Innenwelten zum Ausdruck kommen, nicht zuletzt mittels einer Bewegungsgruppe von vier Frauen aus der Gruppe der Geflüchteten und zwei Polizisten, deren gesamte Choreografie jedes Mal zum Fremdschämen ist, nahezu an Grundschultheater erinnert.

Fahrlässig zynisch wird es, wenn Amor auf einem Militärfahrzeug einfährt und metaphorisch von den Gefangenen der Liebe singt, die in Ketten gelegt seien, unterstützt vom Chor der Geflüchteten, die mit Handschellen baumeln. Was hat das Produktionsteam um Himmels willen hier geritten? Und warum ist keiner dazwischen gegangen? Insgesamt also ein enttäuschendes Debüt von den Stars Sellars und Gehry am Haus. Aber ein Fest für die Musik Charpentiers. Dementsprechend wurden Sänger, Dirigent und Orchester gefeiert, beim Erscheinen des Inszenierungsteams mischten sich Buhrufe in den Applaus.

Szenenbild aus Marc-Antoine Charpentiers „Médée“ an der Berliner Staatsoper
Szenenbild aus Marc-Antoine Charpentiers „Médée“ an der Berliner Staatsoper

Fülle des barocken Wohllauts beim Gastspiel in der Elbphilharmonie – wenn der Dirigent zum heimlichen Regisseur des Klangs mutiert

Ungetrübter Jubel herrschte dann beim einzigen Gastspiel der „Médée“ in der Hamburger Elbphilharmonie. Hier deuteten die Sänger zwar noch Elemente der Personenregie an, die konzertante Aufführung verströmte indes allein die musikalische Magie des Werks und seiner idealen Interpreten. Sir Simon Rattle schien hier seine Rolle als Dirigent insgeheim zum Regisseur des Klangs zu weiten: Er modellierte Charpentiers herrlich vielschichtige Farbschattierungen in unendlichen Varianten, offenbarte den berührenden Zauber von orchestralen Pianissimi wie die düster dräuende Schicksalsschwere der finalen Chorkommentare. Die Akustik der Elbphilharmonie, die Sir Simon einst als „tricky“ bezeichnete, doch in ihren Chancen zu nutzen weiß wie nur wenige Maestri – sie evozierte nun eine ungeahnte Fülle des barocken Wohllauts. Rattles feines agogisches Verweilen, das die harmonischen Spannungskurven schärft, sein Sinn für dramatisches Phrasieren, sein Gespür für den sanften Swing im französischen Barock machte die ganze Expertise und Exzellenz des Freiburger Barockorchesters noch deutlicher als zur Premiere und ließ auch die Sänger über sich hinauswachsen. Reinoud Van Mechelens samtseidener Traumtenor mit all seinen substanzintensiven Kopfstimmenresonanzen wie Magdalena Koženás instrumental sehniger, in einem Atem mit dem Orchester geführter Mezzosopran konnten im Hohen Haus am Hamburger Hafen all ihre sängerischen Stärken vollends ausspielen.

Staatsoper Unter den Linden Berlin / Elbphilharmonie Hamburg
Charpentier: Médée

Simon Rattle (Leitung), Peter Sellars (Regie), Frank Gehry (Bühnenbild), Camille Assaf (Kostüme), James F. Ingalls (Licht), Dramaturgie (Antonio Cuenca Ruiz), Dani Juris (Choreinstudierung), Magdalena Kožená, Reinoud Van Mechelen, Luca Tittoto, Carolyn Sampson, Jehanne Amzal, Gyula Orendt, Markéta Cukrová, Gonzalo Quinhachual, Dionysios Avgerinos, Staatsopernchor, Freiburger Barockorchester

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