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BERLIN/ Staatsoper: MEDEA – Originalfassung in französischer Sprache mit gesprochenen Dialogen

19.11.2023 | Oper international

BERLIN / Staatsoper Unter den Linden MEDEA, 14. Vorstellung seit der Premiere; 17.11.2023

Originalfassung in französischer Sprache mit gesprochenen Dialogen

medea
Foto: Wikipedia

Alljährlich hält die Staatsoper Unter den Linden „Barocktage“ ab. Die diesjährigen finden vom 17. bis 26. November statt und thematisieren die Figur der Medea in der Musik: Nach der die Barocktage eröffnenden Wiederaufnahme von Luigi Cherubinis „Medea“ folgt am 19.11. eine Neuproduktion der „Médée“ von Marc-Antoine Charpentier (Sellars, Rattle, Kožená). Konzertant wird Georg Anton Bendas Melodram „Medea“ aufgeführt. zudem wird Mozarts Opera seria „Mitridate, re di Ponto“ in der Regie von Satoshi Miyagi und unter der musikalischen Leitung von Marc Minkowski wieder in den Spielplan genommen. Neun Konzerte widmen sich vor allem der französischen Barockmusik.

Andrea Breth stützt sich in ihrer „Medea“- Inszenierung aus dem Jahr 2018 auf einen aktuell (Haltungsargumentation im gegenwärtigen Nahost-Krieg) unerträglich gewordenen postkolonialen Diskurs. Abgesehen davon: Natürlich wurde das Goldene Vlies, dieses goldene Fell eines Widders, der fliegen und sprechen konnte, vom Anführer der Argonauten Jason und unter aktiver Mithilfe seiner Geliebten Medea, die sich dafür sogar des Brudermords schuldig machte, kaltblütig gestohlen. Aber steht dieser Diebstahl und was sich daraus an Ableitungen gedanklich folgern lässt, wirklich im Zentrum dieses griechischen Mythos, speziell in der Fassung der Oper von Cherubini? Ich denke, dass Cherubini vielmehr das psychologische Profil der tragischen Figur Medea interessiert hat. Was lernen wir daraus, wenn ein Mensch in seiner blinden Liebe zu einem anderen alle Grenzen überschreitet und zum Kapitalverbrecher wird? Wie reagiert eine ausweglos in die Enge getriebene Mutter und betrogene Ehefrau, wenn der Mann sie wegen einer anderen verstößt und ihr nicht einmal die Kinder lassen will? Doppelter Kindesmord und Suizid als Ingredienzien kalter Rache: Ist Mitleid mit dem fürchterlichen Opfer eines seinem eigenen Aufstieg und Macht alles unterordnenden Opportunisten als auch einer Täterin eine adäquate Reaktion? Wie steht es um die Menschenkenntnis der Medea? Warum hat sie in all der langen Zeit des Zusammenseins nicht bemerkt, welchen perfiden Typen sie sich in der Person des Jason eingehandelt hat?

Viele Fragen in einem experimentellen psychosozialen Raum, die die Szene nicht einmal ansatzweise adressiert. Die dreigeteilte Drehbühne stellt nämlich ein kaltes Zollfreilager (mächtige Belüftungsschächte, Blechrollos und kahle Wände bestimmen die „Atmosphäre“) mit Holzkisten unterschiedlicher Größe dar, in denen Raubkunst verpackt ist. Zwei schwarze lebensgroße Pferdeskulpturen dienen als dekorative Behübschung. Am Schluss brennen die Kisten, Medea wird sich vor dem Vorhang erdolchen.

Der Großteil des Publikums ist ohnedies nicht wegen der Inszenierung in die Staatsoper Unter den Linden gepilgert, sondern um erstmals die lettische Diva Marina Rebeka in der Rolle der kolchischen Königstochter Medea zu hören oder diese Oper – dies stellt ebenfalls eine Premiere seit 2018 dar – nicht von der Staatskapelle Berlin, sondern von der Akademie für Alte Musik Berlin, einem der besten deutschen, historisch informiert spielenden Kammerorchester unter der kantig zupackenden musikalischen Leitung des französischen Cembalisten und Dirigenten Christophe Rousset erleben zu können.

Das, was das Orchester an diesem Abend an archaischem Schicksalshämmern und instrumentaler Detailarbeit geleistet sowie an exotischer Farbigkeit, rhythmischer Schärfe und knalliger Artikulation eingebracht hat, ist schlichtweg spektakulär. Rousset lotete in seinem stilistisch die klassizistische tragédie lyrique eines Gluck beschwörenden Dirigat kompromisslos alle Grenzen der genialen, ungeachtet der urgewaltigen Emotionen marmorn konstruierten Partitur aus. Er lässt damit die dank Maria Callas vor allem in italienischer Sprache mit den Rezitativen von Franz Lachner weltweit bekannte Fassung unbeschadet aller Faszination für die legendäre Titelheldin wie ein Relikt aus vergangener Zeit erscheinen. Die Ouvertüre als auch die Vorspiele zu den Akten zwei und drei (Blitz und Donner grollten noch nie so elementar in den heiligen Hallen) untermauern in schroffen Strichen und rasenden Tempi die Seelendisposition der Protagonisten, nehmen das kataklystische Ende visionär voraus. Besonders die Holzbläser können gar nicht genug gelobt werden. Das, was etwa die Flöten in der Arie der Dircé im ersten Akt und das Fagott in der Arie der Neris „Ah! nos peines seront communes“ an atmosphärischer Eindringlichkeit erwirken, ist magisch.

Marina Rebeka als Medea ist eine Klasse für sich. Wie wir das von dieser stimmtechnisch so makellosen Sopranistin und beeindruckenden Bühnendarstellerin kennen, kreiert sie ein höchst differenziertes Rollenporträt der Medea. In ihren Gefühlen ist sie zutiefst verletzt, wie ein langweilig gewordenes Spielzeug wurde Medea skrupellos von Jason abgelegt, als verhasste Außenseiterin am Königshofe von Korinth muss sie ein kaum geduldetes Dasein fristen. In diesem Endzeitkosmos der Gefühle einer einst stolzen Prinzessin herrschen von allem Anfang an eine von kurzem Aufflackern der Hoffnung zersetzte Ausweglosigkeit, aber auch eine gewisse Gefasstheit dem Unabwendbaren gegenüber. Einer gedemütigten, dafür umso gefährlicheren Raubkatze gleich, der die Krallen gezogen wurden, kennt Rebeka als medea auf die himmelschreiende Gemeinheit der Ächtung, der Verbannung nur eine Antwort: die existenzielle und menschliche Vernichtung des Jason. Er soll nach ihrem Plan vor Reue keine Ruhe mehr finden. Nach der grausamen Logik der Rache geht Medea ans Werk. In ihren beiden großen Monologen im dritten Akt, wo Medea noch einmal ihrer Mutterliebe gewahr wird, bevor sie den Mord an den beiden Söhnen Mermeros und Pheres begeht und ihr bevorstehendes Ende und das ihrer Welt reflektiert, verfällt Rebeka nicht in grelles Outrieren (extrem Magda Oliviero, Mantua 1971), sondern sorgt mit subtil geformten Kantilenen, schockgefrorenen Piani und konzis platzierten Spitzentönen dafür, dass die Galerie an großen Spitzeninterpretinnen um ein faszinierendes Porträt reicher geworden ist.

Der französische Tenor Stanislas de Barbeyrac ließ sich von Operndirektor Tobias Hasan als indisponiert ansagen, weswegen wir ihm dankbar dafür sind, dass diese Vorstellung stattgefunden hat. Ein Urteil über die musikalische Leistung hat dann wohl zu unterbleiben. Dennoch kann berichtet werden, dass ihm „nichts passiert“ ist, de Barbeyrac sich trotz der Erkältung wacker geschlagen und bis zum Ende durchgehalten hat.

Den zweitgrößten Applaus des Abends konnte überraschenderweise Alisa Kolosova in der Rolle der Néris einheimsen. Mit üppigem Mezzo, in Wien würde man respektlos-liebevoll von einer „Röhr‘n“ sprechen, geriet besonders ihre große Arie zu einem der Höhepunkte der Aufführung. Mit dieser Leistung hat sich Kolosova für große wie größte Aufgaben nachdrücklich empfohlen.

Die unglückliche Tochter des Königs Créon, Dircé, war bei Maria Kokareva, seit der Spielzeit 2023/24 Mitglied des Internationalen Opernstudios der Staatsoper Unter den Linden in Berlin, in guten Händen. Ihr glockenblumenfrischer, heller lyrischer Sopran hat Substanz, ihre gestalterische Gabe wertete diese sonst oft blasse Nebenfigur der Oper dramaturgisch schlüssig auf.

Peter Schöne blieb als Créon allzu unscheinbar, es fehlte vor allem an stimmlich markantem Profil. Regina Koncz und Rebecka Wallroth reüssierten als erste und zweite Begleiterin der Dircé.

Der Staatsopernchor machte seine Aufgabe gut, die Koordination mit dem Orchester könnte noch an Präzision zulegen.

Folgevorstellungen am 24.11, 1.12. und 3.12.

Dr. Ingobert Waltenberger 

 

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