Die Leiden des jungen Werthers (1774 in Goethes Briefroman geschildert) passen in jede Zeit. Verzweifelte Liebe, die nicht loslassen kann, gebiert auch heute immer wieder neue Leiden. Jules Massenet interessierte das Thema im späten 19. Jahrhundert. Robert Carsen hat in Baden-Baden die traurige Geschichte von Werther und Charlotte in die Welt der jungen Leute von heute versetzt. Im gesamten Setting zeigt seine Inszenierung fern aller Opernklischees die Geschichte als packende musikalische Tragödie der Gegenwart: in den exakt gewählten Kostümen, wie sie junge Leute heute zu tragen pflegen, einer Bewegungsregie, welche die uns gewohnte Körpersprache aufgreift, und mit einem jungen Ensemble, das diese Charaktere überzeugend darzustellen vermag, als seien sie direkt aus dem Leben gegriffen.

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Jonathan Tetelman (Werther) und Kate Lindsey (Charlotte)
© Andrea Kremper

Was wir bei Goethe allein aus der Sicht des Protagonisten in seinen Briefen erfahren, nämlich die Steigerung von Werthers Leidenschaft bis hin zur Selbstvernichtung, wird in Massenets Oper ergänzt durch den geschärften Blick auf Charlotte, deren Schicksal mit dem Werthers verhängnisvoll verknüpft ist. Denn ihr liegt zunächst nicht daran, eine Beziehung mit dem überschwänglichen Stürmer und distanzlosen Dränger einzugehen. Seine nicht nachlassenden Werbungen aber rufen in ihr – nur zögerlich allerdings – auch Leidenschaft hervor, womit sie am bitteren Ende durch das Bekenntnis zu Werther ihre bürgerliche Existenz und damit sich selbst zerstört. Werthers und Charlottes Leiden: In der Oper werden beide Seiten des Beziehungsdramas gezeigt und in dieser Inszenierung faszinierend auf die Bühne gebracht.

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Kate Lindsey (Charlotte)
© Andrea Kremper

Die Handlung ist realistisch und zugleich poetisch inszeniert. Denn Carsen gelingt es, die äußere Handlung mit der inneren Handlung des Protagonisten gleichsam zu überblenden. An den Stellen seiner zahlreichen inneren Monologe lässt er Werther in der Buchausgabe lesen. Dass sich der Bühnen-Werther im literarischen Text des Roman-Werthers verliert, spiegelt so auf schlüssige Weise auch seine Weltverlorenheit. Eindrucksvoll unterstützt die Lichtregie diesen Wechsel der Perspektive, indem sie den Fokus durch magisch wirkendes Abblendlicht auf die Figur richtet.

Überzeugend gewählt ist als gesamter Handlungsort eine moderne Bibliothek, mit Galerien, auf denen offenbar Studierende immer wieder nach ihrer Lektüre suchen. Auch Werther wird aus dem Bücherbord seinen Goethe herausgreifen. In einem Anfall von Enttäuschung und Wut wird er später eine Buchreihe aus dem Regal fegen und am Schluss sich auf einem Berg von Büchern erschießen. Wir wissen, dass nach der Veröffentlichung im Zuge eines regelrechten Wertherfiebers eine Welle von Suiziden ausbrach. Carsen gibt darauf einen deutlichen Hinweis in seinem abschließenden Bild, wo sich die Studenten auf den Rängen eine Pistole an die Schläfe halten – und sehr dezent, wenn Johann und Schmidt, beide ordentlich dem Alkohol zugetan, sich ausgerechnet der ausgeräumten Bücher annehmen. Übersteigerte Identifikation beim Lesen kann eben auch zur Sucht werden.

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Werther
© Andrea Kremper

Ideenreich und überaus sensibel hat sich Robert Carsen der Personenregie gewidmet. Die Charaktere sind präzise gezeichnet und die Darstellerinnen und Darsteller spielen sie eindrücklich, mit großem Engagement und alle überzeugend bis ins Detail. Die erste Begegnung Werthers mit Charlotte etwa, wo die junge Frau spontan und offen auf Werther zugeht, der ihr als Tanzpartner beim bevorstehenden Ball vorgestellt wird, mit dem sie danach bereits in selbstverständlicher Vertrautheit im Mondschein spazieren geht. Später aber, nach seinen wiederholten Liebesschwüren, wird sie ihn sanft aber bestimmt zurückweisen.

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Kate Lindsey (Charlotte)
© Andrea Kremper

Kate Lindsey spielt die Entwicklung dieser Figur berührend heraus und verfügt vokal über alle Farben dieser facettenreichen Figur. Wenn Charlotte zu Beginn des dritten Akts in Werthers Briefen lesend sich ihrer wahren Gefühle für ihn bewusst wird und damit ihres inneren Konflikts als nunmehr mit Albert verheirateter Frau, dann liegt in ihrer Stimme tiefe, erschütternde Traurigkeit. Von diesem Moment an hat sie auch ihre Selbstsicherheit verloren und kann dem plötzlich erscheinenden Werther nur noch befangen gegenüber treten. Im Duett, in dem sich beide ihrer ersten Begegnungen erinnern, wird ihre innere Zerrissenheit offenkundig. Noch schwankt sie zwischen Anziehung und Abwehr gegenüber dem heftig werbenden Werther, später wird sie ihm erliegen. Lindsey gibt ein außerordentlich berührendes Portrait dieser Rollenfigur.

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Jonathan Tetelman (Werther)
© Andrea Kremper

Jonathan Tetelman ist in ebenso hohem Maße ein idealer Werther. Dessen Entwicklung besteht in der Steigerung seiner Emotionen, die er immer weniger kontrolliert, bis er nur in der Selbsttötung Freiheit finden kann. In vier Arien und vier Duetten mit Charlotte gibt Tetelman eine grandiose Vorstellung dieses von seinen Gefühlen besessenen jungen Mannes. Ein Tenor, wie man sich ihn wünscht: mit strahlender Höhe, einem berückenden Piano und emphatischen Ausbrüchen – stimmlich stets kontrolliert, exzellent phrasiert und mit bezaubernd romantischem Timbre.

Als Sophie besticht Elsa Benoit durch fast übersteigerte Fröhlichkeit in dieser Rolle als Gegenpart zu ihrer um innere Kontrolle bemühten Schwester. Auch sie sängerisch eine Idealbesetzung. Albert versteckt hinter vorgeblicher Solidität eine Portion Zynismus, wenn er Charlotte dazu zwingt, für Werther die gewünschten Pistolen bereitzustellen. Nikolai Zemlianskikh spielt diese Zweideutigkeit zwingend heraus. Nicht zu vergessen auch die Rasselbande der Kinder, die von Mitgliedern des Cantus Juvenum Karlsruhe wunderbar gesungen wird.

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Kate Lindsey (Charlotte) und Jonathan Tetelman (Werther)
© Andrea Kremper

Grandios sind das Dirigat von Thomas Hengelbrock und das überaus farbenreich spielende Balthasar-Neumann-Orchester. Die aus der Alten Musik vertraute Klangrede verbinden sie mit der Fülle eines romantischen Orchestersounds. Es war eine wahre Freude!

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