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Eine Gruppe einfacher Soldaten mit Gesichtern, wie von Kindern gemalt steht hintereinander auf einer leichten Schräge.

Wie von Kindern gemalt: Charpentiers Bibeloper „David et Jonathas" mit dem Ensemble Correspondances. © Philippe Delval

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Männerliebe im Krieg: Charpentiers „David et Jonathas“ in Nancy

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Derzeit gerät der französische Barockkomponist Marc-Antoine Charpentier (1643 bis 1704) verstärkt in den Fokus. Parallel zur Neueinspielung seiner einzigen Tragédie lyrique „Médée" mit Véronique Gens sowie deren Aufführung an der Berliner Staatsoper Unter den Linden tourt eine Produktion Charpentiers Bibeloper „David et Jonathas" mit dem Ensemble Correspondances an mehrere Theater. Das musikalisch fein und in seiner Haltung gegen den Krieg sensibel gestaltetes Panorama Jean Bellorinis setzt die Liebe von „David et Jonathas" feinfühlig und ohne Fragen nach binär-nonbinären Wertungen in Szene.

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Über das eindeutig queere Titelpaar „David et Jonathas“ in Charpentiers biblischer Tragödie wurden schon Anspielungen auf die Beziehung von Louis’ XIV. Bruder Philippe d’ Orléans mit Philippe de Lorraine und in der Darstellung des israelischen Königs Saul eine Kritik am Regierungskurs des Sonnenkönigs hineingedeutet. Das am Collège Louis-le-Grand in Paris 1688 in Einlageblöcken zu Étienne Chamillards Tragödie „Saul“ uraufgeführte und im 18. Jahrhundert mehrfach an Jesuitenschulen nachgespielte Stück hat also seine Rätsel und Tücken. Unmissverständlich artikulieren sich im Libretto des Paters François de Paule Bretonneau der Emporkömmling David und der Königssohn Jonathas vom ersten gemeinsamen Auftritt bis zu Jonathas’ Tod wie Liebende. In Marshall Pynkoskis Inszenierung für die Oper von Versailles und die Musikfestspiele Potsdam Sanssouci wurde 2022 die Konstellation durch Rückgriff auf historisches Gestenvokabular und eine extrovertiert androgyne Kostümierung und Maske Jonathas stilisiert. Die Koproduktion des Ensemble Correspondances mit dem Théâtre de Caen, den Théâtres de la Ville de Luxembourg, Théâtre des Champs-Élysées, Opéra de Lille und Théâtre National Populaire Villeurbanne, die für drei Vorstellungen in der Opéra National de Lorraine gezeigt wurde, versetzt die biblische Geschichte aus dem Alten Testament in eine zeitlos wirkende Gegenwart mit Andeutungen einer Verortung in Europa und im Nahen Osten.

Der Chor trägt Kleidung, wie sie im 20. und 21. Jahrhundert auf vielen, vielen Bildern von Krieg in Europa zu sehen ist. Der sich sowohl im Krieg gegen die Philister und in den Psychokämpfen gegen seinen früheren Favoriten David verrennende König Saul ist offenbar schon lange Einzelpatient und in Pflege bei „La Reine des oubliés“. Diese „Königin des Vergessens“ mit Kittelschürze und sprungbereiter Hilfsbereitschaft im kargen Pflegeraum ist eine Erfindung des Produktionsteams. Hélène Patarots klares Kommentieren und teils über der Musik verstärktes Raunen erzeugt erstaunlicherweise keine Brüche zu Charpentiers mitreißend starker Komposition. Und sie eilt immer dann dem Patienten Saul zur Hilfe, wenn diesen die Erinnerungen und Visionen allzu massiv und quälend überwältigen. Dass die beiden Bühnenwerke des Kirchenkomponisten Charpentier – neben „David et Jonathas“ die Tragédie pour musique „Médée“ - derzeit größere Aufmerksamkeit erfahren, ist vollauf gerechtfertigt. Charpentiers lebendige und aufwühlende Musik funktioniert dank ihrer und dramatischen Verdichtungsenergie auch 350 Jahre nach ihrer Entstehung vollauf, ohne dass Anpassungen nötig wären.

Immer wieder bewegt sich Saul mit Nachthemd und freien, verletzlich wirkenden Beinen auf die untere Ebene zu Alex Rosen als Philisterkönig Achis und den mit Ross-Attrappe erscheinenden Geist des Propheten Samuel. Sauls Lebensrückblick und das unter der künstlerischen Gesamtleitung von Jean Bellorini beeindruckend schlicht geratene Parabelspiel gegen den Krieg durchdringen sich packend. Dazu trägt auch die unprätentiöse, ganz auf den menschlichen Kern konzentrierte Bewegungssprache der Solisten und des Chores des Ensemble Correspondances bei.

Melancholie und ein transparent lebhaftes wie sensibles musikalisches Agieren schließen sich dabei nicht aus. Der am Ende den Todesschuss nur mit dem Zeigefinger und einem lauten „Puff“ andeutende aber überlebende Saul erhält durch das jugendlich lyrische Tenormaterial von Jean-Christophe Lanièce eine bemerkenswerte Tiefgründigkeit. Dieser Gestaltung fliegen die Publikumsemotionen verständlicherweise noch mehr zu als den Liebenden. Durch die mit leichten nahöstlichen und nomadisierenden Andeutungen akzentuierten Kostüme von Fanny Brouste und mehr noch durch den äußerst hellen, klaren bis scharfen Sopran von Gwendoline Blondeel wird signalisiert, dass die Zuneigung von David und Jonathas nicht von dieser Welt ist. Petr Nekoranec kontert mit weißem und leicht kantigem Tenor. Die nur wenigen Berührungen der Stimmen und Körper von David und Jonathas machen aus den beiden eine Insel humaner Integrität und Harmonie inmitten der Verwüstungen. Die große Szene Sauls bei der Magierin von Endor wurde fast zur Gänze gestrichen.

Nicht nur in den intensiven Begegnungen von David und Jonathas leistet das Ensemble Correspondances einen ausgezeichneten Job. Sie sägen die Kuppel mit dem rhetorischen und instrumentalen Pomp, den die Tragédie lyrique durchaus haben kann, einfach ab. Überdies akzentuieren sie ein nobel volltönendes wie klares und dabei faszinierend dynamisches Musiktheater. Sébastien Daucé motiviert zu einem sich auf die szenischen Situationen empathisch, aber nicht sentimental einlassenden Klanggeschehen. Die Streicher agieren in den militärischen Momenten faszinierend geschmeidig, die Holzbläser in den Szenen Davids und Jonathas‘ mit heller Transparenz. Das in der zweiten Vorstellung zahlreich anwesende junge Publikum war gepackt wie die Älteren. So setzt auch dieser Abend die inzwischen als Vorsatz erkennbare Hauptlinie der Intendanz Matthieu Dussouillez an der Opéra National de Lorraine fort: Gegenwartsbezug mit Ernst und einer Poesie, die Freiräume zum individuellen Weiterdenken lässt.

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