Oper Genf Tangente St. Pölten Milo Rau Kongo
Milo Rau inszeniert in Genf "Justice" – im Mai kommt das Stück über einen Giftunfall im Kongo zur "Tangente St. Pölten". Mi.: Axelle Fanyo in der Partie einer um ihr Kind trauernden Mutter.
GTG / Carole Parodi

Der traurige Stoff wäre womöglich nach dem pädagogischen Geschmack Bertolt Brechts gewesen. Ein Tanklaster mit Schwefelsäure havariert anno 2019 in der kongolesischen Provinz. Durch die Kollision sterben 21 Menschen. Das austretende Gift sickert in Böden, schädigt Anrainer und macht den Friedhof unbewohnbar.

Sogar die guten Geister der Überlieferung halten Auszug. Die Oper Justice ist eine einzige Anklageschrift. Aufgelistet werden die Folgekosten, die die Ökonomie der Gier dem Globalen Süden auferlegt. Wobei die alte koloniale Fron nahtlos ins Scheffeln neuer Bodenschätze übergegangen ist: Kongolesisches Kobalt verhilft dem Smartphone-Akku zu energetischem Spenderglück.

Mit der Inbrunst des Totalreformers hat sich der Schweizer Regisseur Milo Rau der Causa im Kongo angenommen. Längst ist Rau der europaweit ausschlaggebende Ombudsmann für kurrente Ungerechtigkeitsfragen. Unter seinen geschäftigen Fingern darf sich das Theater ältester Aufgaben besinnen: Sammelbecken sein für empörende Einzelfälle, Beitrag leisten zur Entsühnung der Welt.

Und so ist im Grande Théâtre de Genève ein gebrauchsfähiges Stück Lehrtheater entstanden: Justice, komponiert vom Katalanen Hèctor Parra nach dem Libretto von Fiston Mwanza Mujila, wandert Ende April im Rahmen der "Tangente" für zwei Aufführungen ins Festspielhaus St. Pölten. Und kann dort, so viel vorweg, als Dritte-Welt-Oper mit gelegentlichem Richard-Strauss-Melos gute Figur abgeben. Selten ward den Verdammten dieser Erde derart süffig zum Tanz aufgespielt. Rau, so viel scheint sicher, wird als Wiener Festwochen-Intendant die Gelüste verwöhnter Kulinariker vollauf befriedigen. Auf dem kontaminierten Boden postkolonialen Unrechts erblühen süßeste Kantilenen: Verlustklagen, vorn an der Rampe kniend angestimmt, wo sie helfen, im Nu jedes Herz zu zerreißen.

Verendeter Tanklaster

Zieht man von Raus Kunst das zivilgesellschaftliche Engagement ab, das diskursive Pathos, erhält man tadellos konventionelles (Opern-)The­ater. Wie ein verendetes Untier liegt der gekippte Tanklaster auf der Bühne. Schwer leidet die kongolesische Bevölkerung an der Doppelnatur ih­res Reichtums. Die Ausbeutung des Bodens hat den Grubenarbeitern jahrzehntelang Auskommen und Infrastruktur beschert. Jetzt drängen Konzerne an die reich gedeckte Tafel. Rau, der Agitator, zerrt Profiteure wie die helvetische Glencore ins investigative Licht: Die Anrainer erhalten nicht einmal Krümel vom Kuchen. Alle Untersuchungen der Giftkatastrophe von Kabwe verliefen im Sand.

Der Betroffenen wird nunmehr lehrstückhaft gedacht. Wie ein schmaler, strenger Gast huscht Li­brettist Mujila mit durch die Szene: Als Erzähler flicht er das Band der Überlieferung weiter – und lenkt den Blick auf eine Übergangsgesellschaft. Deren Mitgliedern gab kein Gott zu sagen, was sie leiden, ihnen schrieb Parra ein paar wundermilde Arien – und aufrüttelnden Chor­gesang.

Fünf Akte währt das Geschehen. Die Figuren besitzen etwas Geisterhaftes, manchen steht die Verwendung als Lehrmittel leider ins Gesicht geschrieben. Eine Festtafel soll die Einweihung einer neuen Schule gebührend feiern: Die umsitzenden Gäste verabschieden sich rasch aus der Handlung.

Auf Streicherteppichen

Wichtiger als jede Fabel scheint die Ästhetik des Totengedenkens. Im Verein mit den vor Ort gedrehten Videos entsteht die Geschichte einer Ansammlung von Opfern. Diese drohen alles zu verlieren und sind nun auf Parras Streicherteppichen sitzen geblieben: reich verziert mit "klassisch-modernen" Ornamenten. In Momenten der Erregung glitzern die Glissandi, und die Gesichter der Sängerinnen und Sänger erstrahlen in Wehmut.

Ein Gerichtsgeschehen wird nur angedeutet. Die aus Serbien stammende Chauffeuse des Unglückslasters (Katarina Bradic) flüchtet in den Suff, die Angehörigen evozieren, virtuos arios wie weiland Alban Bergs Lulu (Axelle Fanyo), die Bilder ihrer Lieben. Die berückendsten Gesänge steuert Countertenor Serge Kakudji bei: ein Orpheus des südlichen Kongo. Es spielt das aufgekratzte Orchestre de la Suisse Romande unter Titus Engel.

So verhält es sich bei Justice wie mit den meisten Lehrstücken Brechts: Gesang und sprachlicher Wohllaut (die Oper ist französisch) helfen mit, die entstellendsten Wunden, die himmelschreiendes Unrecht schlägt, zu schließen. Der Ort Kabwe könnte, zufolge eines Wortes aus der Genesis, das "Tor zum Himmel" sein. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so. Trauer muss der Kongo tragen. Die erstaunliche Einsicht lautet: Milo Rau kann sentimentale Oper. Das hilft gerade dann, wenn die Weltrevolution wieder einmal Pause macht. (Ronald Pohl, 24.1.2024)