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Opern-Kritik: Aalto Musiktheater Essen – Fausto

Glanzvolle Wiederbelebung

(Essen, 27.1.2024) Die früheste französische Faust-Oper komponierte eine Frau: Louise Bertin. Angesichts der enormen Qualität des Werks wünscht man sich nach dieser späten Wiederentdeckung, die Französin hätte weit mehr Opern komponieren können.

vonMichael Kaminski,

Eine Frau, zudem durch Polio gehandicapt, der mit ihrer 1831 am renommierten Pariser „Théâtre Italien“ uraufgeführten Semiseria „Fausto“ ein von Rossini und Berlioz akklamierter Erfolg gelang, Louise Bertin (1805 – 1877) durfte solchen Triumph für sich verbuchen. Weder dieses noch die Folgewerke freilich vermochten sich dauerhaft durchzusetzen. Früh schon wurde Bertins Musik grundlos als Plagiat verleumdet. Sie hörte auf, Opern zu komponieren. „Fausto“ lässt wünschen, Bertin hätte ein umfangreicheres Œuvre hinterlassen. In Essen wird nun das bei der Uraufführung applaudierte Werk nach rund zweihundert Jahren zum ersten Mal szenisch wiederbelebt. Doch wozu eigentlich braucht es in dieser frühesten französischen Faust-Oper den Teufel? Nicht jedenfalls, um die Titelfigur auf Margarita zu fixieren. Das geschieht ganz ohne seine Mitwirkung. Die Liebreizende sucht den als Arzt praktizierenden Gelehrten auf, um dessen Hilfe zur Gesundung einer Freundin zu erbitten. Faust reißt es auf dem Fleck hin – und auch Margarita ist mindestens angetan. Bei Licht betrachtet, steht einer Verbindung wenig entgegen. Dass dem Mann der Wissenschaft attraktives Äußeres, Vitalität und Unbekümmertheit der Jugend abgehen, sind Hinderungsgründe, die er allererst vor sich selbst aufbaut. Das Ich überflüssiger Vorbehalte zu entledigen, dazu dient daher in Louise Bertins Oper der Teufel. Folgerichtig sucht sich im geraden Gegensatz zu Goethes Tragödie der höllische Dienstleister seinen Kandidaten nicht aus, proaktiv ruft Faust selbst Mefistofele auf den Plan. Der Rest ist bekannt.

Szenenbild aus „Fausto“ am Aalto Musiktheater Essen
Szenenbild aus „Fausto“ am Aalto Musiktheater Essen

Faszinierendes Zeitdokument

Als ihre eigene Librettistin zielt dabei Louise Bertin primär auf die höchst operntaugliche Gretchentragödie. Für ihre Partitur ließ sich die Komponistin ebenso von Rossinis „Guillaume Tell“ anregen wie von Meyerbeers italienischen Opern. Der Hexensabbat des ersten Aktes freilich weist auf das Nonnenballett in Meyerbeers ein dreiviertel Jahr nach „Fausto“ uraufgeführtem „Robert le diable“ voraus. Bertins massiver Orchestersatz macht den Singenden zu schaffen. Heftige Intervallsprünge samt unbequemen Lagen tragen ein Übriges bei. Ob dies durch den Willen zum Ausdruck veranlasst, oder den Umstand, dass zu Bertins Zeit Frauen lediglich an den Propädeutika des Pariser Conservatoire teilzunehmen erlaubt war, nicht aber an den anspruchsvolleren Lehrveranstaltungen, die Komponistin sich also privat aus- und weiterzubilden hatte, ist kaum zu entscheiden. Was jedenfalls unbedingt für das Werk einnimmt, sind dessen ebenso inspirierte wie oft weit gespannte melodische Bögen in den Arien und beinahe mehr noch den Ensembles.

Szenenbild aus „Fausto“ am Aalto Musiktheater Essen
Szenenbild aus „Fausto“ am Aalto Musiktheater Essen

Moralinsaure Überheblichkeit und Sadismus

Die Essener plädieren überzeugend für das in der Tat hochbeachtliche Werk. Tatjana Gürbaca demonstriert an Margaritas Beispiel, wie mehrheitsgesellschaftliche Gehässigkeit Menschen zu bloßen Spielbällen entwürdigt. Umstandslos mutieren Mitwohnende und selbst Freundinnen zu moralingedopt Hetzenden und Richtenden. Im Kerker begreift Margarita: Kein Fluchtversuch könnte sie aus dem Kesseltreiben befreien, erst die Hinrichtung wird ihr Ruhe verschaffen. Auch spult der zur Rettung erbötige Ex-Liebhaber mit seiner Initiative lediglich ein Programm ab, um sein Ego ins rechte Licht zu rücken. In Wahrheit hat Margarita für ihn längst jeden Reiz verloren. Gürbaca schreibt das Panoptikum menschlicher Gemeinheiten einer Versuchsanordnung ein, in der Fausto als sein eigener Experimentator und zugleich Proband agiert. Seine immerfort verleugnete Niedertracht fährt in eine von ihm sezierte Leiche, um als des Wissenschaftlers unter dem Namen Mefistofele firmierendes alter ego zu boshaft-untotem Treiben zu erwachen. Überhaupt denkt Fausto keinen Augenblick daran, sein Forschungsinstitut jemals zu verlassen. Marc Weegers Bühne, ob nun in zunächst klinischem Weiß oder schlussendlichem Schwarz, zeigt sich als Laboratorium und Experimentierfeld. Zwar steckt Silke Willrett die Personnage in bürgerliche Zivilkleidung, doch ziehen „des Volkes Gewimmel“ und selbst die Hexen immer wieder die weißen Kittel der Bediensteten in der Forschungseinrichtung über.

Szenenbild aus „Fausto“ am Aalto Musiktheater Essen
Szenenbild aus „Fausto“ am Aalto Musiktheater Essen

Hochkarätige Gesamtleistung

Wie die szenische überzeugt die musikalische Seite des Essener „Fausto“. Klaas-Jan De Groot motiviert den Chor des Hauses gleichermaßen zu engelhaften Sphärenklängen, orgiastischer Lüsternheit wie fiesem Pöbeln. Die Essener Philharmoniker agieren unter Andreas Spering so sängerfreundlich, wie die Partitur es eben zulässt. Trefflich fangen Kapellmeister und Klangkörper den Pariser Zeitgeist unmittelbar vor Meyerbeers Grand opéras ein. In der Titelpartie läuft Mirko Roschkowski alsbald zu großer Form auf. Für seinen Fausto bietet Roschkowski erwogenste Phrasierung, bezwingende Piani und Strahlkraft bis in die Spitzentöne auf. An Stelle der erkrankten Jessica Muirhead übernimmt Tatjana Gürbaca höchstselbst und tief ins Gemüt greifend Margaritas szenischen Part. Vokal rettet die zur Generalprobe für Muirhead eingesprungene und seitlich am Bühnenportal platzierte Netta Or – die Partie war ihr bis dahin gänzlich unbekannt – mit ihrem Husarinnenstück die Premiere. Geschäftsmäßig durchtrieben verkörpert Almas Svilpa einen Mefistofele, der versiert in die manipulatorische Trickkiste greift. Vokal und spielerisch agil gibt Nataliia Kukhar Margaritas Freundin Catarina. George Vîrban ist ein tenoral strahlkräftiger Valentino. Auch alle weiteren Rollen sind trefflich besetzt.       

Aalto Musiktheater Essen
Bertin: Fausto

Andreas Spering (Leitung), Tatjana Gürbaca (Regie), Marc Weeger (Bühne), Silke Willrett (Kostüme), Stefan Bolliger (Licht), Klaas-Jan De Groot (Chor), Mirko Roschkowski, Netta Or / Tatjana Gürbaca, Almas Svilpa, George Vîrban, Nataliia Kukhar, Natalija Radosavljevic, Baurzhan Anderzhanov, Stefanie Rodriguez, Michaela Sehrbrock, Iva Seidl, Marion Steingötter, Helga Wachter, Julia Wietler, Opernchor des Aalto-Theaters, Essener Philharmoniker

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