Puschkin 1834, Rimsky-Korsakow 1907, Kosky 2024. 200 Jahre russische Geschichte, 200 Jahre despotische Herrscher an der Spitze des Riesenreiches. Der Goldene Hahn ist eine spärlich als Märchenoper verkleidete gnadenlose Abrechnung mit den Herrschenden und Beherrschten. Barrie Kosky hebt in seiner Inszenierung an der Komischen Oper in Berlin, die zuvor als Ko-Produktion bereits in Lyon, Aix-en-Provence und Adelaide zu sehen war, das Stück zwar aus der Märchenwelt, aber nicht auf die weltpolitische Bühne. Stattdessen wird Der Goldene Hahn eher zur Persiflage auf den alten weißen Mann und seine sexuellen Ambitionen.

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Dmitry Ulyanov (König Dodon)
© Monika Rittershaus

Eine Steppenkreuzung irgendwo im nirgendwo, fahles Licht, schier endlos grau-braune Weiten. In diesem Niemandsland lässt Barrie Kosky im Bühnenbild von Rufus Didwiszus die Geschichte des König Dodon, seiner zwei Söhne, des Astrologen und seines vermeintlich vor Gefahr warnenden Goldenen Hahns und die geheimnisvolle Königin von Schemacha, an dessen Ende mehr als die Hälfte der Protagonist*innen das Zeitliche gesegnet haben werden, spielen.

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Dmitry Ulyanov (König Dodon) und Kseniia Proshina (Königin von Schemacha)
© Monika Rittershaus

Doch bei Kosky ist von zaristischer Pracht nichts zu erkennen, sein König hat seine besten Tage bereits hinter sich. Wunderbar verkörpert wird dieser in verschmutztem Unterhemd und -hose von Dmitry Ulyanov. Als echtes Bühnentier mit exaltiertem Minenspiel und voluminös-durchdringenden Bass, der auch zarte Töne nicht scheut, gestaltet der russische Sänger seine Rolle. Dieser König Dodon ist ein Mann mitten in der Midlife Crisis zwischen infantiler Freude und lethargischer Lebensmüdigkeit, der am liebsten einfach nur „liegend regieren“ würde.

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Der Goldene Hahn
© Monika Rittershaus

Ihm gegenüber steht allen voran Kseniia Proshina als Königin von Schemacha, die mit ebenso mit lyrischer Zartheit in der Stimme als auch eiskalter Divenhaftigkeit im Ausdruck überzeugt. Sie ist der wahrgewordene vermeintliche Männertraum. Doch wirkt diese Femme fatale im ersten Moment eher wie ein gerupftes Showgirl mit Federschmuck und Glitzerkleid (Kostüme: Victoria Behr), eine erste Entzauberung des Mythos. Statt sich auf die politische Ebene zu besinnen – die Ursprungsinszenierung von Der Goldene Hahn entstand vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, wie der Regisseur im Programmheft betont – stellt Kosky die unverkennbaren sexuellen Anspielungen zwischen männlicher Fantasie und sadomasochistischer (Nicht-)Erfüllung der Märchenerzählung in den Vordergrund.

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Der Goldene Hahn
© Monika Rittershaus

Das führt in der zweiten Hälfte des Stückes zwar immer mal wieder zu kürzeren Längen in der Erzählung, doch immer dann, wenn es langatmig zu werden droht, erklimmen in Kosky-bewährter Manier – und nicht zuletzt eine Hommage an die Aufführungen des Ballets Russes, die Der Goldene Hahn im Paris der Jahrhundertwende weltberühmt machten – glitzerbehaftete Tänzer die Bühne. Das wirkt genauso absurd wie die Tanzversuche des König Dodons höchstselbst, die dessen Selbstentzauberung auf die Spitze treibt. Nicht immer zündet im Publikum hingegen der zwischenaktische Schabernack des Astrologen, in dessen Rolle James Kryshak gesanglich jedoch begeistert. Kristallklar schraubt sich der Tenor in schwindelerregende Höhen, die mit jenen der Königin von Schemacha rivalisieren.

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Dmitry Ulyanov (König Dodon)
© Monika Rittershaus

Üppig klingt es währenddessen von den ersten Momenten an aus dem Orchestergraben im Schillertheater. Der Goldene Hahn ist die erste Premiere des neuen Generalmusikdirektors der Komischen Oper James Gaffigan. Der amerikanische Dirigent erweist sich als echter Glücksgriff für das Opernhaus. Mal verführerisch ummantelnd, dann scharfe Akzente setzend stürzt sich Gaffigan in Rimsky-Korsakovs extrem farben- und stilprächtige Partitur. Selten hat man das Orchester des Hauses in den letzten Jahren unter seiner musikalischen Leitung so differenziert gehört. Ein Einstand, der Lust auf mehr macht.

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Dmitry Ulyanov (König Dodon) und Kseniia Proshina (Königin von Schemacha)
© Monika Rittershaus

Mehr – das gibt es für König Dodon am Ende der Oper jedoch nicht. Nachdem er seine zwei Söhne dem Krieg geopfert hat, kehrt er schlussendlich mit der Königin von Schemacha heim. Doch gerade als das Glück zum Greifen nah scheint, fordert der Astrologe die Bezahlung für das titelgebende Federvieh: Des Königs Braut. Statt seine Eroberung herzugeben, ersticht der König den Astrologen – woraufhin sich der goldene Hahn gegen ihn wendet und den König nicht nur ermordet, sondern verspeist. Und das Volk? Das trauert um den vermeintlich doch ganz guten König ganz gleich, was dieser ihnen im Leben angetan hat.

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