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Opern-Kritik: Théâtre du Châtelet – Così fan tutte

Wahrhaftige Schönheit

(Paris, 8.2.2024) Wie gehen historische Aufführungspraxis und modernes Regietheater zusammen? Das Gipfeltreffen von Christophe Rousset und Dmitri Tcherniakov macht Mozart so modern wie vielleicht noch nie.

vonPeter Krause,

So manche französische Opernfans sollen „not amused“ gewesen sein, als Dmitri Tcherniakov ihnen zum letztjährigen Festival d’Aix-en-Provence die musikalische Sommerfrische verdarb. Denn die Regiesicht des Russen, der in Berlin, München und Hamburg mit seinen radikal heutigen Befragungen von Wagner und Strauss das Publikum meist hellauf begeistert, er hatte die bitterböse „Schule der Liebenden“ des Lorenzo da Ponte und Wolfgang Amadeus Mozart wirklich beim Wort und damit enorm ernst genommen, sie dazu von aller Komödienniedlichkeit unglaubwürdiger Verkleidungen (nebst falschen angeklebten muselmanischen Bärten) befreit und auf ihren Kern reduziert: auf ein Experiment des Partnertauschs einer nach langen Ehejahren gelangweilten Bourgeoisie.

Szenenbild aus Mozarts „Così fan tutte“ am Théatre du Châtelet Paris
Szenenbild aus Mozarts „Così fan tutte“ am Théatre du Châtelet Paris

Doppelte Paartherapie

Zwei befreundete Paare in den besten Jahren der Midlife-Crisis sind sichtlich schon in der Ouvertüre in ihren Konventionen erstarrt, haben aber immerhin noch den Mut, professionelle Hilfe anzunehmen: In einem gemeinsamen Wochenende beim Paartherapeutenduo Don Alfonso und Despina wollen sie testen, was ihnen denn eine erotische Rochade so an Motivationsschub bringen könnte. Am Tisch des Esszimmers im designschicken weißen Loft mit den beiden einsehbaren, nebeneinander liegenden Schlafzimmern nimmt der ultimative Beziehungstest bei vielen Flaschen einer einschlägigen Champagnersorte seinen Lauf.

Szenenbild aus Mozarts „Così fan tutte“ am Théâtre du Châtelet Paris
Szenenbild aus Mozarts „Così fan tutte“ am Théâtre du Châtelet Paris

Erotischer Erkenntniszuwachs in einer etwas anderen „Schule der Liebenden“

Erst geht es noch schichtspezifisch gesittet zu, man wahrt die Konventionen und offenbart den eigenen, über Jahrzehnte perfektionierten Charakter. Einig sind sich Fiordiligi und Guglielmo, Dorabella und Ferrando, dass sie für den gemeinschaftlichen erotischen Erkenntniszuwachs ein Spiel spielen wollen. Die beiden Ehemänner geben also dezidiert innerhalb der allen bekannten Spielregeln vor, in den Krieg eingezogen zu werden. Der Chor, der „la vita militar“ tänzerisch beschwingt anpreist, wird von Alfonso per Fernbedienungsknopfdruck eingespielt und dann wieder abgeschaltet. Die Abreise der Herren, ihr Auftauchen in anderer Identität und ihre finale Rückkehr sind somit keine Überraschung für die Damen, sondern Teil der vereinbarten, somit von allen durchschauten Spielregeln. Dass dann die beiden „neuen“ Männer bei ihrem gar nicht überraschenden Auftauchen dennoch venezianische Masken tragen, finden die Damen durchaus überflüssig und nehmen den Herren das letzte verbliebene Verkleidungszeichen gleich wieder ab, so als wollten sie sagen: „Was soll der Quatsch? Wir kennen doch das Spiel.“

Szenenbild aus Mozarts „Così fan tutte“ am Théâtre du Châtelet Paris
Szenenbild aus Mozarts „Così fan tutte“ am Théâtre du Châtelet Paris

Messerscharfe Abrechnung mit bürgerlichen Beziehungskonzepten

Virtuos spielt Dmitri Tcherniakov die diversen Stadien des Spiels durch: dessen mögliches Scheitern, das Auftauchen wahrer Gefühle füreinander in den Arien, die ironischen Brechungen echter Emotionen in den Verführungsversuchen, die Therapiesitzung im Halbkreis, zu der zunächst niemand etwas sagen will. Solche Momente der Sprachlosigkeit sind durchaus von köstlicher Komik. Wer in solchen Szenen nicht lachen kann, hat die eigene Paarprobleme womöglich nur verdrängt. Dmitri Tcherniakov also hat sehr wohl Humor, letzterer ist nur sehr viel besser als in schlechten Inszenierungen der „Così fan tutte“. Die messerscharfe Abrechnung mit bürgerlichen Beziehungskonzepten bleibt bitter und böse. Aber ist gerade diese Doppelbödigkeit nicht direkt im Stück angelegt? Ist Mozart nicht ein früher Dialektiker des Gefühls, bei dem Wahrheit und Lüge sich durchaus nicht immer so exakt trennen lassen, wie die Moral uns dies lehren möchte?

Szenenbild aus Mozarts „Così fan tutte“ am Théatre du Châtelet Paris
Szenenbild aus Mozarts „Così fan tutte“ am Théatre du Châtelet Paris

Entschiedene Entdeckungen im scheinbar so sattsam beackerten Feld des Salzburger Musenlieblings

Die wirklichen und womöglich noch aufregenderen Neuigkeiten des Abends aber kommen aus dem weit hochgefahrenen Graben, in dem Les Talens Lyriques Platz genommen haben. Das exquisite Ensemble der Historischen Aufführungspraxis, das in seinen Anfangsjahren mit Vorliebe die französische Barockoper in die Spielpläne zurückbrachte, dann mit derselben Expertise Händel und Bach interpretierte, ist nun mit seinen Mozartinterpretationen gleichsam in der Mitte des Opernrepertoires angekommen. Und sein Leiter, Christophe Rousset, demonstriert darin mit großer Entschiedenheit, was es denn noch alles zu entdecken gibt im scheinbar so sattsam beackerten Feld des Salzburger Musenlieblings. Roussets Erkenntnisförderung in Mozartdingen ist dabei eine mindestens doppelte. Er macht zunächst hörbar, woher diese Musik kommt: von der Affektsprache des Barock, das uns ein authentisches Instrumentarium vermittelt, somit von den eben noch nicht romantisch abgetönten Instrumenten und deren erst viel späteren Farbmischungen.

Szenenbild aus Mozarts „Così fan tutte“ am Théatre du Châtelet Paris
Szenenbild aus Mozarts „Così fan tutte“ am Théatre du Châtelet Paris

Selten klingt Mozart so seelentief, ohne romantisch zu sein

Neben den seidig frischen Streichern der wohl größte Unterschied zum klassisch-romantischen Orchester ist das knackige Blech, das auch mal ins explosiv Geräuschhafte tendiert. Doch die fein ausgearbeitete Klangrede verleitet Rousset nie dazu, in den klanglichen Extremismus zu verfallen. Sein Mozart klingt gleichsam wohltemperiert, dem Adjektiv im Namen seines Ensembles wollen die Musikerinnen und Musiker mit poetischen Klangbildern gerecht werden. Selten klingt Mozart so seelentief, ohne romantisch zu sein. Dazu mit solcher Eleganz, solchem Esprit, solcher Clarté. Mozarts Seelenton nachzulauschen, wird immer wieder zum magisch entschleunigten Ereignis, im „Addio“-Quartett oder im Wellenterzett, wo das Ensemble zu einer zartschmelzenden Innigkeit des Musizierens findet. Entgegen den Erwartungen an eine primär drängende kernige Klangrede findet Christophe Rousset zu ganz eigenen, ungemein stimmigen Temporelationen, die das Verweilen und das Voranschreiten genialisch auspendeln. Und da der Maestro, ein Cembalist von Gnaden, im Pariser Théâtre du Châtelet die Rezitative eigenhändig am Hammerflügel gestaltet, entsteht unter seiner sensibel befeuernden Leitung der ganz große Bogen, der als Amalgam von Rezitativen, Arien und Ensembles zu einem veritablen Gesamtkunstwerk führt. Dieses Dirigieren, das jeden Takt und jede Phrase als bestimmenden Teil eines großen Ganzen auffasst, führt im Ergebnis zu einer wirklich neuen Mozart-Glaubwürdigkeit, ja, zu einer wahrhaftigen Schönheit theatralischer Musik. In diesem Sinne werden Les Talens Lyriques und Christophe Rousset zum umjubelten Star des Abends.

Szenenbild aus Mozarts „Così fan tutte“ am Théatre du Châtelet Paris
Szenenbild aus Mozarts „Così fan tutte“ am Théatre du Châtelet Paris

Gereifte Mozartsänger

Die aus dem szenischen Konzept abgeleitete Besetzung mit erfahrenen, ausdrücklich nicht mehr jungen Sängerinnen und Sängern stärkt genau diese Suche nach Wahrhaftigkeit, weil die langen Linien der Tenorarie „Un’aura amorosa“ eben dann kein bloßer Schöngesang mehr sind, sondern zu gelebter Musik werden, wenn ein über Jahrzehnte erfahrener Ferrando wie Rainer Trost sie intoniert. Oder wenn eine längst zu Wagners Fricka und Kundry gereifte Sängerin wie Claudia Mahnke zur Dorabella zurückkehrt, schwingen eben ganz andere Ebenen des Frauseins mit als bei einer Anfängerin im Mozartfach. Dmitri Tcherniakov kann somit auf ausgeprägte Charaktere vertrauen und bauen: Da kehrt Agneta Eichenholz als Fiordiligi von Strauss zu Mozart zurück oder Georg Nigl von Wagners Alberich zum zynischen Psychopathen des Don Alfonso.

Théâtre du Châtelet Paris
Mozart: Così fan tutte

Christophe Rousset (Leitung), Dmitri Tcherniakov (Regie & Bühne), Elena Zaytseva (Kostüme), Gleb Filshtinsky (Licht), Agneta Eichenholz, Claudia Mahnke, Rainer Trost, Russell Braun, Georg Nigl, Patricia Petibon, Les Talens Lyriques

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