„Faust“ von Charles Gounod in der Oper Köln / Wiederaufnahme

Oper Köln/Faust (2020.21)/Foto: © Bernd Uhlig

Die Premiere am 5. Juni 2021 und die Folgevorstellungen konnten Corona-bedingt nur je 200 Zuschauer sehen, ein guter Grund für die Wiederaufnahme am 3. März 2024. Musikalisch absolut erstklassig und szenisch überzeugend entwickelt Dirigent Francois Xavier Roth mit Regisseur Johannes Erath eine bildstarke Collage des „Faust“ in der ursprünglichen Fassung von 1859, die die Frage Fausts nach dem Sinn des Lebens aufwirft. Als junger Faust in einer reizüberfluteten Gesellschaft stürzt er Marguerite und ihren Bruder Valentin in den Tod. Gounods Urfassung mit gesprochenen französischen Dialogen enthält viel mehr Goethe als die weltweit gespielte Grand Opéra. Marguerite wird in ihrem christlichen Glauben zur eigentlichen Gegenspielerin Méphistos. (Rezension der Wiederaufnahme vom 3.3.2024)

 

Am Anfang sieht man in der Mitte der Bühne ein EKG und einen alten Mann, Faust, in einem Krankenrollstuhl. Zu den Klängen von „Avant de quitter ces lieux“ („Da ich nun verlassen soll …“) in der Ouvertüre flacht die Linie ab, Faust ist tot. Im Moment des Sterbens zieht sein ganzes Leben in freien Assoziationen an ihm vorbei. Die Premiere war am 5. Juni 2021 mitten in der Corona-Zeit, und man hatte für Chor und Darsteller strenge Abstandsvorschriften zu beachten. Regisseur Johannes Erath und Bühnen- und Kostümbildner Herbert Murauer machten aus der Not eine Tugend und bebilderten mit einem zweidimensionalen Kasperle-Theater im Dada-Stil die Assoziationen des sterbenden Faust.

Keine Architektur-Kulissen, nur ein paar Hospitalbetten, sechs bewegliche Wände mit je einem teilbaren runden Ausschnitt, parallel dazu Bewegungen auf Laufbändern – die Personen agieren nebeneinander, aber bleiben wegen der Corona-Vorschriften auf zwei Metern Abstand voneinander. Der Chor der Oper Köln singt von der Seite aus dem Off. Man sieht den Chordirektor Rustam Samedov die Sängerinnen und Sänger dirigieren. Die Szene wird auf der sehr breiten Bühne durch einen „Bewegungschor“ aus Statisten gedoubelt, der mit Hilfe von bizarren Kostümen und Requisiten Dramatik erzeugt. Da stören auch Hasen-Kostüme und nackte Männerbeine zu Fräcken nicht weiter.

Das Gürzenich-Orchester ist vor der Bühne breit aufgefächert. Gounods opulente Instrumentierung einschließlich Orgel und vier Harfen kommt voll zur Geltung. Mit François-Xavier Roth am Pult kann das Gürzenich-Orchester in jeder Beziehung glänzen. Roth ist seit 1. September 2015 Gürzenich-Kapellmeister und Generalmusikdirektor der Stadt Köln. Seine Idee war es, die kürzlich erst vom Bärenreiter-Verlag publizierte Urfassung des „Faust“ mit gesprochenen Dialogen und ohne Ballett in Köln zur deutschen Erstaufführung zu bringen. Auch Bizets „Carmen“ hat Roth in der Urfassung mit gesprochenen Dialogen aufgeführt.

Im Mittelpunkt der Inszenierung steht der Moment des Sterbens und die bittere Ahnung Fausts, etwas verpasst zu haben.  „Rien“, („Nichts“) zweifelt er an den Erkenntnissen durch Wissenschaft und Theologie, und mit dem gesprochenen „Rien“ endet die Oper.

Oper Köln/Faust (2020.21)/Foto: © Bernd Uhlig

Die Gretchen-Tragödie, das Melodram der Liebesgeschichte Fausts mit dem naiven jungen Mädchen aus einfachen Verhältnissen, Marguerite, die zum tragischen Opfer seiner rauschhaften romantischen Verliebtheit wird, ist seine Imagination der großen Liebe, die er nie erlebt hat. Die Kostüme von Herbert Murauer zeigen Marguerite, Fausts Schüler Wagner und Siébel und Marguerites Bruder Valentin in Schuluniformen, der junge Faust und Méphistophèlés tragen den gleichen Maßanzug in verschiedenen Grautönen mit einem Muster aus Schmetterlingen und deuten damit an, dass Méphistophèlés Fausts alter Ego ist. Dirigent Roth trägt ein Hemd mit dem gleichen Muster.

Die Arie „Salut! Demeure chaste et pure“ („Gegrüßet seist Du, bleibe keusch und rein“), deren zweiter in der Uraufführung gestrichener Teil kürzlich auf einem Flohmarkt entdeckt wurde, ist pure romantische Verklärung der jungen Geliebten. Der gestrichene und wieder aufgefundene sehr dramatische Teil stellt schon in der Phase des Werbens um die junge unschuldige Frau Fausts Skrupel dar, die aber durch sein Alter Ego Méphistophèlés zerstreut werden.

Die Corona-bedingte Umsetzung der Massen- und Tanzszenen wie Faustwalzer in der Jahrmarktszene, Soldatenchor und Walpurgisnacht irritiert die Sehgewohnheiten erheblich, denn der Chor singt aus dem Off – Damenchor von links, Herrenchor von rechts. Walzer und Marsch werden nur mit schwarz-weißen Videoskizzen illustriert. Ob der große Chor auf die Bühne gepasst hätte, muss bezweifelt werden.

Besonders die verstörende Bebilderung von Valentins Tod im Duell mit Faust im Krankensaal eines Lazaretts als Fieberphantasie Fausts nach einem makabren Aufmarsch zeigt im Gegensatz zur patriotischen Musik eine kritische Einstellung zum Krieg, aus dem Valentin bereits traumatisiert zurückgekehrt ist.

Herausragend in der Premiere in 2021 war die belgische Sopranistin Anne-Catherine Gillet. Sie verkörperte mit einem wunderbar leichten und beweglichen jugendlich lyrischen Sopran die unschuldige verführte und verliebte Kindsmörderin. Sie wird aus ihrem naiven Glauben heraus aufgrund ihrer tiefen Reue gerettet. Gillet wird einige Vorstellungen singen, die Wiederaufnahme sang Emily Hindrichs, zuletzt noch in „Die Soldaten“ als Marie zu erleben. Auch sie blieb der Partie der Marguerite nichts schuldig.

Der französische Bassbariton Nicolas Testé, der mit großer Lässigkeit den Méphistophèlés verkörperte, ist Spezialist für sinistre Figuren, wie die Bösewichter aus „Hoffmanns Erzählungen“ und gastiert weltweit. Seine Arie „Le veau d´or“ („Das goldene Kalb“) rockt das Haus.

John Heuzenröder als alter Faust und Young Woo Kim mit exzellentem lyrischem Tenor als junger Faust stehen zeitweise gleichzeitig auf der Bühne und zeigen die Zerrissenheit des romantischen Helden Faust. Es macht Sinn, den alten Faust mit einem Charaktertenor zu besetzen, dessen Stimme viel „trockener“ klingt als der glänzende lyrische Tenor des jungen Liebhabers. Fausts ekstatisches Liebesduett mit Marguerite am Ende des dritten Akts ist ein Schwelgen im Rausch der erwachten Liebe und beglückt auf der ganzen Linie. Young Woo Kims: „Je t´aime“ zeigt perfekte Stimmführung mit  Spitzentönen im zarten Piano.

Anstatt der später komponierten berühmten Arie „Avant de quitter ces lieux“ („Da ich nun verlassen soll“) singt Miljenko Turk als Valentin ein Abschiedsduett mit Marguerite. Sein Schicksal ergreift, zumal Faust den traumatisiert aus dem Krieg zurückgekehrten Bruder Marguerites eher beiläufig tötet. Die Inszenierung unterläuft die pompöse Fechtmusik. Maya Gour als Siébel, Lucas Singer als Wagner und Regina Richter als Marthe sind aus dem Ensemble exzellent besetzt.

Der Pakt des alten Gelehrten Faust mit dem Teufel hat seit Goethes Drama nichts von seiner Faszination verloren. Gounod hat daraus eine große Choroper gemacht, die am 19. März 1859 am Pariser Théatre Lyrique uraufgeführt wurde, allerdings im Stil einer Opéra comique mit gesprochenen Dialogen. Das zeigt, dass die Urfassung der gesprochenen Sprache sehr große Bedeutung beigemessen hat. In Köln wird französisch gesungen und gesprochen, und es gibt deutsche Übertitel. Die Oper dauert einschließlich Pause drei Stunden und zehn Minuten, die im Flug vergehen.

Gounods „Faust“ war von Anfang an ein großer Erfolg Gounods. Für die Übernahme an der Pariser Opéra Nationale 1869 ersetzte er den gesprochenen Text durch Rezitative und komponierte Arien des Siébel, des Valentin, eine Serenade des Mephisto und eine Ballettmusik zur Walpurgisnacht dazu, ganz im Stil der Grand Opéra, die sich weltweit durchgesetzt hatte. Die Metropolitan Opera in New York wurde am 22. Oktober 1883 mit „Faust“ eröffnet.

Oper Köln/Faust (2020.21)/Foto: © Bernd Uhlig

Francois Xavier Roth und Johannes Erath zeigen mit der Kölner Produktion des „Faust“, dass Gounod und seine Librettisten Jules Barbier und Michel Carré Goethes Theaterstück viel näher waren als die mit Pomp, Ballett und Starrummel überfrachtete Grand Opéra, die Gounod später daraus gemacht hat. Bereits die ursprüngliche Version von Gounods „Faust“ überzeugt durch herrliche Melodien, wundervolle Ensembles und beeindruckende Chorszenen. Wie die meisten Opern des 19. Jahrhunderts ist sie auf die Männerrollen fixiert. Wer die weibliche Sicht sucht, sollte sich „Fausto“ von Louise Bertin im Aaltotheater Essen ansehen, die bereits 1831 uraufgeführt wurde.

Gounods „Faust“ in der Fassung als Grand Opéra war bis zum 2. Weltkrieg ein Repertoire-Renner. Die Verherrlichung des Krieges im Soldatenchor und vor allem der enorme Aufwand, die Walpurgisnacht mit einem Ballett zu bebildern, haben zu einer größeren Zurückhaltung diesem Werk gegenüber geführt. Da kommt die Urfassung gerade recht!

Die Wiederaufnahme wurde weder im Bühnenbild noch in der Personenführung geändert, allerdings übernahm John Heuzenroeder die Partie des alten Faust und Nicolas Testé den Mephisto. Anne-Catherine Gillet wird wieder in einigen Vorstellungen als Marguerite zu sehen sein. Schon für Young Woo Kims überragende Interpretation der Tenorpartie und das Dirigat von François Xavier Roth lohnt sich ein Besuch.

(Gesehene Vorstellungen am 5.6.2021 und am 3.3.2024)

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Oper Köln / Stückeseite
  • Titelfoto: Oper Köln/Faust (2020.21)/Foto: © Bernd Uhlig
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