Verdi-Bearbeitungen an der Brüsseler Oper

Wenn die Barrikaden der Revolte zum Kunstobjekt werden

An der La Monnaie Oper in Brüssel gab es mit dem „Rivoluzione e Nostalgia“ an zwei Abenden ein packendes Verdi-Pasticcio

Von Joachim Lange

(Brüssel, 5. und 6. April 2024) Peter de Caluve hat das Genre natürlich nicht erfunden. Aber die Pasticcio-Produktionen an der Brüssler La Monnaie Oper werden sicherlich die Habenseite seiner Intendantenjahre zieren, wenn die 2025 enden. Die jüngsten beiden Pasticcio-Produktionen kombinieren keineswegs Musik aus dem Barock, wo das gängige Praxis war. In Brüssel gab es neu gebaute Opern mit Musik von Heroen des 19. Jahrhunderts. Aus Donizettis Il Castello di Kenilworth, Anna Bolena, Maria Stuarda und Roberto Devereux entstand 2023 der Zweiteiler Bastarda über den Aufstieg und Fall von Königin Elisabeth I. Ein theatralischer Wurf, der von Shakespeares Theater profitierte und mit historischer Prachtentfaltung auch vokal glänzte.

Jetzt folgte der Zweiteiler „Rivoluzione e Nostalgia“ – eine neues Verdi-Doppel, das die 68er Revolte, die auch Italien erfasste, mit einer operntauglichen Liebesgeschichte verbindet.

Der erste, mit drei Nettostunden längere Abend Rivoluzione endet mit heroischen Gesten auf den Barrikaden und mit dem nicht ganz geklärten Tod der einer Ulrike Meinhof nachempfundenen Heldin Laura. Der alte Spontispruch „Das Private ist politisch und das Politische ist privat“ feiert hier Urstände, fühlen sich doch der smarte Werftarbeiter und Amateurboxer Carlo und der politisch engagierte Musikstudent Lorenzo zu ihr hingezogen. Während Lauras ebenfalls boxender Bruder Giuseppe Ingenieurwissenschaft studiert und mit Filmstudentin Christina befreundet ist (die ihrerseits eine Affäre mit Carlo hatte). Eine Intrige von Lauras hochrangigem Polizisten-Vater, Eifersucht und eine Radikalisierung der Formen von Widerstand sind der Operntreibstoff des ersten Teils.

Das gilt in verwandelter Form auch bei der Wiederbegegnung der Freunde, vierzig Jahre später, am zweiten, pausenlosen, kürzeren Abend Nostalgia. Da ist die „echte“ Barrikade vom Ende des ersten Teils zum Kunstobjekt in eine Nobelgalerie geworden, in der sich die überlebenden und gealterten Akteure von einst bei der Vernissage wieder begegnen, um nostalgisch ihren Erinnerung nachzuhängen. Zum immer noch attraktiven Carlo, dem mittlerweile zurückgezogen lebenden Jazzpianisten Lorenzo und dem Ex-Politiker Giuseppe kommen die extrovertiert geschäftige Galeristin Donatella und mit der Studentin Virginia, die Tochter der inzwischen verstorbenen Christina hinzu. Virginia ist auf der Suche nach ihrem Vater und will aus der Hinterlassenschaft ihrer Mutter einen Dokumentarfilm über die 68er-Zeit machen.

Auch diese Fortsetzung erweist sich als ziemlich opernpraktische Vorlage für die Kombination der Musik aus 16 frühen Verdi-Opern zwischen Oberto (1839) und Stiffelio (1850). Aus dieser Periode liefern Ernani (1844), I due Foscari (1844), Giovanna d’Arco (1845) und I Masnadieri (1847) ihre verblüffend passenden musikalischen Beiträge. Aber auch musikalische Schmuckstücke aus sehr selten zu hörenden Werken wie Un giorno di regno (1840), I Lombardi (1843) oder Alzira (1846) sind zu entdecken. Natürlich sind die auf Anhieb erkennbaren Beiträge aus den beiden populären Frühwerken Nabucco (1842) und Macbeth (1847) dramatisch passend eingebaute Höhepunkte. Wenn das „Va, pensiero“ des Gefangenenchores aus Nabucco zum Finale mit der zerstörten und brennenden Barrikadeninstallation anhebt, ist das besonders ergreifend und feuert den Schlussbeifall zusätzlich an. Das gilt aber auch für die adaptierte Wahnsinnsszene der Lady Macbeth oder für die Bankettszene, durch die natürlich nicht der Geist von Banco, sondern der von Laura geistert.

Der polnische Regisseur Krystian Lada hat für sein Skript tief gegraben und viel gefunden. Er steht auch für Regie, Bühne und die Videos. Gelungen ist ein stimmiges Gesamtkunstwerk. Hier passen die verbindenden gesprochenen Textpassagen zu den eigens gedrehten und den dokumentarischen Videos ebenso wie die Umsetzung der sich vokal aufschwingenden Emotionen in eine verblüffend passgenau, scheinbar improvisierende Choreografie (Michiel Vandevelde) für die neunköpfige Straßentänzertruppe!

Verdis Büste findet sich auch auf der Barrikade. Sie gehört dazu und ist unzerstörbar, wie seine Musik. Dass die Italiener das „Va! pensiero“ auch heute noch mitsingen können und dieser Chor den Rang einer heimlichen Nationalhymne hat, spricht für sich. Einen politisch so wachen Geist und empathischen Menschen wie Verdi darf man getrost, so wie Lada und der Musikalische Leiter dieser Produktion Carlo Goldstein es gemacht haben, als musikalischen Kronzeugen für ein Revolutionsstück bemühen. Vor allem, weil sie können, was sie dürfen.

Man ertappt sich für einen Moment bei der Überlegung, ob sich das mit Wagner auch machen ließe und kommt zu dem Ergebnis: eher nicht. Inhaltlich, weil ihn sein Lebenslauf dezidiert von der einen, aufbegehrenden Seite der Barrikade auf die andere, die staatstragende trug. Aber auch formal, weil sich seine Werke so hermetisch geschlossen sich selbst genügen. Ausgenommen der Ring, der ja schon Gegenstand einer pasticcioähnlichen Bearbeitung (am konsequentesten bei Tatjana Gürbaca in Wien) war. Das spricht nicht gegen den Künstler Wagner. Die Flexibilität mit der man Bausteine zumindest aus den verwendeten frühen Opern auch neu verbauen kann, aber auch nicht nur für Verdi. Auch wären seine späteren Meisterwerke dafür nicht geeignet, weil zu bekannt. Hier würden verwendete Teile ihren eigentlichen Kontext immer zu deutlich mitliefern. Goldstein hat sich daher zum Glück bewusst auf die Frühwerke konzentriert. Was er da allerdings mit dem La Monnaie Symphony Orchestra liefert packt nicht nur durchweg, sondern trägt auch die Protagonisten.

Als Giuseppe treten im ersten Teil Vittorio Prato und als Lorenzo der gutmütig sonore Justin Hopkins an. Nino Machaidze zieht für ihre zentrale Rolle der Laura alle dramatischen Register. Aus dem Rivoluzione-Ensemble ragen der italienische Tenor Enea Scala als charismatischer Carlo mit unerschütterlich strahlenden Schmettertönen und die atemberaubende Gabriela Legun in der kleinen Partie der Christina heraus. Sie ist zum Glück in Nostalgia noch einmal in der Rolle von Christinas Tochter Virginia zu erleben. Da gibt Scott Hendricks den älteren Carlo und Giovanni Battista Parodi den Giuseppe. Lorenzo ist hier (seltsamerweise) nur eine stumme Rolle. Mit ihrer traumhaften Höhensicherheit, Bühnenpräsenz und augenzwinkernder Selbstironie im Spiel hinterlässt die australische Sopranistin Hellen Dix als Galeristin einen bleibenden Eindruck.

Im selbst in den Folgevorstellungen ausverkauften Haus, ließ sich ein gut gemischtes Brüsseler Publikum willig auf diese Reise zu neuen Verdi-Ufern ein, feierte den Entdeckermut seines Opernhauses und die mitreißende Leistung aller Beteiligten.

 

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