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Opern-Kritik: Musikalische Komödie Leipzig – Hans Sachs

Lortzing-Spähne vom Wagner-Hobel

(Leipzig, 13.4.2024) Das Lortzing-Jahr 2026 wirft seine Schatten voraus: Regisseurin Rahel Thiel erweist sich als sensibel, filigran und mit wissender Kenntnis ironisch. Musikalisch gilt es, bis zum Jubiläum noch nachzusteuern.

vonRoland H. Dippel,

Das Genre der deutschsprachigen Spieloper ist im internationalisierten Opernbetrieb seit dreißig Jahren leider so gut wie irrelevant. Heute führt man „Il barbiere di Siviglia“ im Belcanto-Segment. Auch das frühere Partienfach „Spielalt“ ging längst auf in den Polen Lyrischer Mezzosopran bzw. Charakterfach. Dieser Wandel ereignete sich parallel zum Verschwinden der Opern Albert Lortzings aus den Opernhäusern und Mehrspartentheatern. Dessen Hits von „Vater, Mutter, Schwestern, Brüder“ bis „Gern gäb ich Glanz und Reichtum hin“ sind vergessen. Insofern gerät es der Oper Leipzig und der Musikalischen Komödie Leipzig zum ganz hohen Verdienst, mit Stadtratsbeschluss und „Hans Sachs“ auf das Lortzing-Jahr 2026 hinzuarbeiten.

Der Leipziger Lortzing

In der Musik- und Messestadt war Lortzing mehrere Jahre eine Ensemble-Säule des Alten Stadttheaters – dort textete, komponierte, sang, spielte und dirigierte er: Ein musiktheatraler Allrounder wie der Musical-Experimentator Stephen Sondheim am Broadway. Nur weil Lortzings Sujets bis 1848 topaktuelle Dauerbrenner waren, wirken sie heute aus der Zeit gefallen. Weil er seine Musiktheater-Stücke mit zu großer Bescheidenheit als theatrales „Mittelgut“ betrachtete, leistete er der vernichtenden Kritik des 20. Jahrhunderts selbst Vorschub. Und weil Lortzing bis in die 1980er Jahre zu den sechs in Deutschland meistgespielten Opernkomponisten gehörte, den in dieser Ranghöhe nur Rossini, Donizetti und Händel ablösten, ist es heute erst recht schwierig mit ihm.

Szenenbild aus „Hans Sachs“ an der Musikalischen Komödie Leipzig
Szenenbild aus „Hans Sachs“ an der Musikalischen Komödie Leipzig

Nach zwiespältigem Start mit Lortzings „Undine“ im Opernhaus am Augustusplatz hakte Intendant Tobias Wolff jetzt mit Lortzings „Hans Sachs“ nach. So unbekannt wie Lortzings 2018 an der Musikalischen Komödie herausgekommener „Casanova“ ist „Hans Sachs“ nicht. Es gibt eine in Maßen legendäre Aufnahme mit Karl Schmitt-Walter aus der Hans-Sachs-Stadt Nürnberg 1950 und die 2002 produzierte Einspielung des Theater Osnabrück.

Ein anderer Hans Sachs als bei Wagner

Eine Regie- und Dramaturgie-Spielwiese ist das Fußnoten-Stück „Hans Sachs“ wegen der inhaltlichen Nähe zu Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ allemal. Bei Lortzing bekommt der Schusterpoet die von ihm verehrte Bürgermeistertochter Kunigunde und setzt sich also gegen den Augsburger Stadtschreiber-Sohn Eoban Hesse durch.

Lortzings Hans Sachs ist keine Entsagenden-Figur. Kaiser Maximilian I. greift ein und hilft ihm zum Liebesglück. Auch die zu Wagners David mit Magdalene kongruenten Figuren Cordula und Görg finden zusammen. Lortzings Musik ist schön, innig und gefällig, bietet aber keinerlei Sinn- oder Reibungskanten wie Donizetti, Adam und Weber. Damit wäre „Hans Sachs“ trotzdem tolles Freiwild für Regie-Zertrümmernde.

Szenenbild aus „Hans Sachs“ an der Musikalischen Komödie Leipzig
Szenenbild aus „Hans Sachs“ an der Musikalischen Komödie Leipzig

Rahel Thiels Regie hat goldrichtiges Lortzing-Feeling

Gerade die Regie durch die frühere Leipziger Regieassistentin Rahel Thiel erweist sich als sensibel, filigran und mit wissender Kenntnis ironisch. Die blaue Raumbox, zu der ein Amor (Julian Brandão) mit Schulranzen und Schwanenflügeln den Vorhang aufzieht, ist ein „Nürnberg irgendwann“. Elisabeth Vogetseders Bühne sowie die farbintensiven und auf alle Personen, Figuren, Charaktere abgestimmten Kostüme von Renée Listerdal plädieren eindrucksvoll für das Nachhaltigkeitskonzept der Oper und der MuKo Leipzig.

Diese frische, junge Szene räumt auf mit der DDR-Rezeption, welche Lortzing zum bürgerlichen Prä-Marxisten stilisierte, und mit den plumpen Bagatellisierungen aus Ex-Westdeutschland. Toll, wie Thiels Figuren aus der Reichsstadt des 16. Jahrhunderts zu Angestellten in der perfekten Work-Life-Balance der Sachschen Schuh-Manufaktur werden. Diese wuchten sie um zum partizipativen Ratssaal. Das im Grunde hervorragende Solisten-Mischteam aus Oper und MuKo spielt, flirtet und möchte Feinschliff akzentuieren. Das hätte als Lortzing-Renaissance großes Potenzial für die Generation Z und lässt die Bodenhaftung derber Komödiantik wie in den letzten Lortzing-Zuckungen des 20. Jahrhunderts weit unter sich.

Szenenbild aus „Hans Sachs“ an der Musikalischen Komödie Leipzig
Szenenbild aus „Hans Sachs“ an der Musikalischen Komödie Leipzig

Fast bis zum Schluss. Weil Lortzing einiges in seinem von Dramaturgin Inken Meents gründlich neu getexteten Dialogen unvertont ließ, trieb das künstlerische Produzentinnen-Team und hauptverantwortend der Dirigent dem offenherzigen Lortzing den Wagner-Pfahl in die offene Herzwunde. Konzeptionelles Paradox: Im Lied des Hans Sachs, dem melodischen Hit, textete man „Vaterland“ um zu „Heimatland“. Trotzdem zeigte man keinerlei Skrupel, mehrere Minuten aus Wagners noch immer nicht ganz vom Radikal-Nationalismus und -Rassismus freigesprochenen „Meistersingern“ ein großes Solo mit Chor in Lortzings Singspiel-Kreislauf zu injizieren. Das ist fast ebenso fatal wie die nachlässige musikalische Gestaltung.

Musikalisch ohne Festspiel-Format

Robert Heger, Komponist und Kapellmeister der Bayerischen Staatsoper, meinte vor fast sechzig Jahren bei seiner „Undine“-Aufnahme mit Anneliese Rothenberger, dass nur hohe Qualität Lortzing vor dem Vergessen und Missverstehen schützen könne. An der MuKo wirkte „Hans Sachs“ allerdings so wie in einer jener beiläufigen Repertoire-Aufführungen vor 1980, die den produktivsten deutschen Dichterkomponisten vor Wagner letztlich ins Abseits kickten. Klangen die LP-Aufnahmen von Lortzing-Opern um 1970 noch wie para-symphonische Schwergewichte, so hätte man sich zumal in der Lortzing-Stadt Leipzig längst auf eine historisch informierte Aufführungspraxis wie für Meyerbeer, Rossini und Cherubini fokussieren müssen.

Aber Tobias Engeli, der vor zwei Monaten eine exemplarisch hochklassige „Fledermaus“ dirigierte, zeigt bei Rossini und Wagner unentschuldbare Kenntnislücken. Alles kommt vom Orchester der Musikalischen Komödie laut, derb und flach. Zudem war das in der MuKo existenzielle Tonregie-Team hörbar überlastet. Da gibt es – wie bereits nach „Undine“ – bis zum Lortzing-Jahr 2026 sehr viel zu tun. Vor allem besteht starker Bedarf an musikalischer Liebe und Achtsamkeit.

Szenenbild aus „Hans Sachs“ an der Musikalischen Komödie Leipzig
Szenenbild aus „Hans Sachs“ an der Musikalischen Komödie Leipzig

Das Hauptpaar singt so, als sei es noch nicht oder nicht mehr im Idealfokus seiner Partien. Mirjam Neururer tritt durch ziemlich waghalsige Höhentiraden aus dem Schatten der Glockenstimmen-Assoluta Johanna Eunike, welche um 1820 in Berlin E. T. A. Hoffmanns „Undine“ wie Webers „Freischütz“-Ännchen mit Bravour und Seelenadel erfüllte. Justus Seeger fehlte es in der großen Sachs-Arie und in dessen „Heimatland“-Lied an Atem, Legato-Linie, gestaltendem Bewusstsein.

Bei der als Cordula generell richtigen Sandra Maxheimer merkt man die Anstrengung nach längerer Unterbeschäftigung. Sehr gut dagegen die beiden Tenöre: Andreas Rainer als Augsburger Reichensöhnchen und Adam Sánchez, der als Görz mit Kollegialität und immensem Können alle stimmlich-spielerischen Register zieht. Milko Milev als (Bürger-) Meister Steffen zeigt als echter Spielbass, wie man Sprechgesang und Ahnung von Belcanto magnetisch verbindet. Und von Christian Henneberg gibt es einen noblen Kaiser Maximilian.

Viel Lortzing-Luft nach oben in Leipzig

Lob der Leipziger Lortzing-Lückenhaftigkeit: Es bleibt unbegreiflich, dass ein souveräner Operetten-Hasardeur wie Tobias Engeli sich entgehen lässt, aus Lortzings Liedern ein bisschen Ballade wie von Carl Loewe, vor allem jedoch ganz viel Rossini-, Donizetti-, Auber- und Adam-Drive herauszukitzeln. Glücksmomente wurden immerhin das wunderbar gelungene A-cappella-Quartett der beiden Paare und – das war Thiels musiksensible Regie – ein Lied von Sánchez, das die Hammerschläge des prickelnd bis moussierend spielenden Chors unterbrachen und verzögerten.

Szenenbild aus „Hans Sachs“ an der Musikalischen Komödie Leipzig
Szenenbild aus „Hans Sachs“ an der Musikalischen Komödie Leipzig

Die Ansätze zum Lortzing-Revival sind in Leipzig, das nach „Wagner22“ Zyklisches auch von Schostakowitsch anbietet, durchaus vorhanden. Jetzt müssen sich die Oper und die MuKo entscheiden, ob sie Publikumsströme mit oder ohne ernstzunehmende Lortzing-Pflege anlocken werden. Aber dann braucht es neben Thiels vorbildlicher Regie den Willen zur Lortzing-Befragung auf internationalem Qualitätsniveau. Dafür sind die Stars locker im eigenen Ensemble aufzufinden, man sollte sie für diese Aufgaben allerdings auch einsetzen. Denn sonst heißt es einmal mehr, dass Lortzing kaum zu retten sei. Das stimmt so nicht. Aber Lortzing braucht eine Kompetenz-Lobby wie die weitaus anspruchsvolleren Spitzenwerke von Massenet oder Bellini. Sonst ist er wirklich nicht zu retten – nicht einmal durch die Musikstadt Leipzig.

Musikalische Komödie Leipzig
Lortzing: Hans Sachs

Tobias Engeli (Leitung), Rahel Thiel (Regie), Elisabeth Vogetseder (Bühne), Renée Listerdal (Kostüme), Inken Meents (Dramaturgie), Mathias Drechsler (Chor), Mirjam Neururer / Nora Lentner, Sandra Maxheimer, Justus Seeger / Ivo Kovrigar, Adam Sánchez /Jeffery Krueger, Andreas Rainer, Milko Milev, Christian Henneberg, Julian Brandão / August Karlström / Fritz Rösch, Chor und Extrachor der Musikalischen Komödie, Komparserie der Oper Leipzig, Orchester der Musikalischen Komödie



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