Der April ist anscheinend ein guter Monat, um Carmen zu zeigen, denn so wie letztes Jahr um diese Zeit steht dieses Werk in der Inszenierung von Calixto Bieito wieder am Programm der Wiener Staatsoper – mit ihrer Protagonistin, die wie das Wetter macht, was sie will.

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Vasilisa Berzhanskaya (Carmen)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Rund um diese Figur gibt es natürlich viele Klischees: eine Femme fatale, die naive Männer mit ihren Verführungskünsten manipuliert und ins Verderben reißt, und womöglich auch noch Spaß daran findet, wenn sich zwei um sie streiten, während sie vielleicht schon den nächsten Herrn im Kopf hat. Dieser Wechsel zwischen heißem Begehren und kaltem Abservieren ist eher Typ- als Altersfrage, daher waren auch schon berühmte, erfahrene Sängerinnen nicht unbedingt die besten Carmen-Darstellerinnen. Für die aktuelle Serie hat man die junge, aufstrebende Mezzosopranistin Vasilisa Berzhanskaya verpflichtet, deren wunderschöne, profunde Tiefe mit einer mädchenhaften Erscheinung kontrastiert, die wiederum im Gegensatz zur divenhaften Aufmachung ihrer Pressefotos steht.

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Ilja Kazakov (Zuniga), Vasilisa Berzhanskaya (Carmen) und Vittorio Grigolo (Don José)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Ihrer Carmen nimmt man jedoch nicht ganz ab, dass sie weiß, was sie will, vom Spaßhaben einmal abgesehen. Man erlebt sie eher als freches Früchtchen, das sich durchs Leben treiben lässt. Das ist in dieser kitschbefreiten, realistisch-brutalen Inszenierung auch passend, da Carmens Tod als Folge der unterschätzten Gefährlichkeit Don Josés gedeutet wird. Allerdings wirkt die Fehleinschätzung des enttäuschten Liebhabers in Berzhanskayas Gestaltung eher wie jugendliche Unbekümmertheit, jedenfalls nicht wie die Überheblichkeit einer erfahrenen Frau, die mit ihrer „Masche“ in der Männerwelt bislang durchgekommen ist. Hinsichtlich ihrer Gesangsleistung ist man zuversichtlich, dass auf der bereits beachtlichen Leistung noch aufgebaut werden kann; der lange Atem, um die Phrasen der Habanera noch erotischer zu dehnen, wird noch kommen.

Berzhanskaya führt eine Besetzung an, bei der alle größeren Partien bis auf Vittorio Grigolo (Don José) und Szilvia Vörös (Mercédès) von russischen bzw. russisch-stämmigen Sängerinnen und Sängern gegeben werden. Wer ihnen kein südländisches Temperament zutraut, irrt gewaltig, und Kristina Mkhitaryan sieht als schwarzlockige Micaëla sogar wie eine typische Carmen aus. Ihr gelingt eine wunderbare Gestaltung des braven Mädels, das Don José mit seinen bescheidenen, rührenden Reden nach Hause locken möchte, und das große Duett mit Don José erregt zwischen all den Hitnummern jedenfalls mehr Aufmerksamkeit als sonst. Schade nur, dass sich in den Solostellen die eine oder andere scharfe Höhe bemerkbar machte.

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Kristina Mkhitaryan (Micaëla) und Vittorio Grigolo (Don José)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Vittorio Grigolo gelang an diesem Abend alles – ein Vergnügen, ihm zuzuhören. In der Blumenarie zeigt er Don José als selbstgefälligen Typ, der zwar aus Liebe zu Carmen im Gefängnis war, doch nun ihre Liebe als Gegenleistung erwartet. Schwärmerisch erinnert sich dieser José an sein Liebesleid in der Zelle, während ihm die Realität – Carmen, zuvor von ihm handgreiflich zu Boden gebracht – nur hin und wieder in den Sinn kommt. Dass dabei auch Tenoreitelkeit im Spiel ist, mag (auch) sein – Grigolo-Fans ist das aber herzlich egal.

Alexey Markov ist gesanglich wie gestalterisch ein souveräner, weltmännischer Escamillo, versprüht aber im mausgrauen Anzug eher Auftragskiller- als Latin Lover Charme, während die Ensemble-Lieblinge Maria Nazarova und Szilvia Vöros als Frasquita und Mercédès mit ihrem Größenunterschied und pantomimisch überzeugenden Querelen ein in jeder Hinsicht köstliches Duo bilden. Ilja Kazakov und Stefan Astakhov gefielen als überhebliche Soldaten Zuniga und Moralès besser als letztes Jahr und ließen im zweiten Akt nicht nur den schweinisch-gemeinen Vorgesetzten, sondern auch die Party-Sau raus. Auch Agustin Gómez (Remendado) und Michael Arivony (Dancaïre) holten das Beste aus ihren kleinen Partien.

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Alexey Markov (Escamillo)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Unerwähnt am Besetzungszettel, aber durch viele Auftritte an den wichtigen Wiener Bühnen gut bekannt, ist Pavel Strasil. Er sei stellvertretend für die vielen Statisten genannt, die nicht nur in dieser Produktion unverzichtbar sind. Im ersten Akt läuft er als Soldat Strafrunden bis zum Zusammenbruch und eröffnet den dritten Akt mit einem nackten Solotanz; der auf der nebligen Schmuggleranhöhe und untermalt von musikalischen Naturimpressionen wie der Tanz eines Fauns wirkt, und so auf die bald folgende Mystik der Karten-Szene samt Todesahnung vorbereitet.

Asher Fisch entlockt edem Staatsopernorchester genau das, was man von Carmen erwartet: Er zündete Bizets Rhythmusfeuerwerk, sodass man schon bei der Ouvertüre kaum ruhig sitzenbleiben konnte, und diese Spannung ließ den ganzen Abend über nicht nach, obwohl er auch Gespür für die leisen und subtilen Details hatte. Ob bei der ersten Massenszene des vierten Akts alles gepasst hat, war nicht mit Sicherheit auszumachen: Da herrschte szenischer Tumult wie vor dem Konzert einer angesagten Pop-Größe, so lebensecht wie Theater nur werden kann. Wer sich da nicht mitreißen lässt, ist selbst schuld.

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Vittorio Grigolo (Don José) und Vasilisa Berzhanskaya (Carmen)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Im Finale nahm sich Popstar Grigolo die Freiheit, auf das von Bieito vorgesehene Wegschleppen von Carmens Leiche zu verzichten, und neben seiner toten Geliebten zusammenzubrechen. Der Verlust des Bühneneffekts bringt allerdings einen Gewinn an wahrhaftigem Gefühl – und wo, wenn nicht bei der unangepassten, freiheitsbesessenen Carmen, darf man sich (und wer, wenn nicht Grigolo) die Freiheit des Unerwarteten nehmen?

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