Maifestspiele Wiesbaden 2024: „Turandot“ mit Anna Netrebko in der Titelpartie

Staatstheater Wiesbaden/TURANDOT/O. Golovneva/ Foto: Karl und Monika Forster

In Puccinis unvollendeter Oper wird ein persisches Märchen, das in Peking spielt, zu einer musikalischen und inhaltlichen Auseinandersetzung des Komponisten mit der Moderne. Es ist eine große Choroper, die Regisseurin Daniela Kerck als bizarren Herrschaftskult in Szene setzt. Darüber hinaus ist die Titelfigur eine traumatisierte exzentrische Frau, die reihenweise Männer in den Tod treibt. Puccini beschreibt in dieser großen Choroper die Wirkungsmechanismen der Massenhysterie. (Rezension der Vorstellung v. 4. Mai 2024)

 

Am Samstagabend hatten sich vor Beginn der Vorstellung mehrere Hundert Menschen vor dem Hessischen Staatstheater Wiesbaden versammelt und mit ukrainischen Flaggen, Plakaten und Reden gegen den Krieg in der Ukraine und gegen den Auftritt Anna Netrebkos protestiert. Es wurden auch Transparente wie „Nonetrebko“ oder „An ihrer Stimme klebt Blut“ hochgehalten. Ein Polizeisprecher sagte, es sei alles friedlich geblieben, es habe keine Zwischenfälle gegeben.

Wegen ihrer angeblichen Nähe zum russischen Präsidenten Wladimir Putin war Netrebko nach Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine im Februar 2022 in die Kritik geraten. Erst vor wenigen Tagen war in Luzern ein für den 1. Juni geplantes Konzert mit Netrebko auf Druck der Kantonsregierung abgesagt worden. Netrebkos Management verweist stets darauf, dass die Sängerin sich gegen den Krieg ausgesprochen habe. Inzwischen wird sie auch wieder eingeladen. Unter anderem sang sie im September 2023 in der Staatsoper in Berlin, im Dezember in der Mailänder Scala. Im Februar war sie Gast beim Opernball in Wien. Netrebko hat neben der russischen auch die österreichische Staatsbürgerschaft und wohnt mit ihrer Familie in Wien.

Anna Netrebko  gilt immer noch als Primadonna assoluta und gastiert vorzugsweise an der Wiener Staatsoper und an der Mailänder Scala. Die Maifestspiele Wiesbaden sorgen mit ihrem Namen für ein ausverkauftes Haus, zumal ihr aus Aserbaidschan stammender Ehemann Yusif Eyvazov, der den Calaf bereits 2022 in der Berliner Staatsoper unter Zubin Mehta gesungen hat, ihren Gegenspieler verkörpert. Die Premiere der „Turandot“ war am 13.4.2024 in Wiesbaden und wurde von Presse und Publikum gelobt. Für die Gala-Vorstellung am 4. Mai hat man als Dirigent Michelangelo Mazza, einen Experten für das italienische Repertoire, verpflichtet, der schon unter Zubin Mehta gearbeitet hat.

Staatstheater Wiesbaden/TURANDOT/ Foto: Karl und Monika Forster

Grundlage der Oper ist ein Märchen, dessen Bearbeitungen von Carlo Gozzi und Friedrich Schiller Puccini kannte. Regisseurin Daniela Kerck bettet diese Geschichte in die Rahmenhandlung des Komponisten Giacomo Puccini ein, der an seinem Flügel an der Vertonung arbeitet, mit seinem sehr kindlich wirkenden Hausmädchen Doria Manfredi an seiner Seite, die ihm Bücher sortiert, und die dann beide in die Handlung des Märchens hineingezogen werden. Yusif Eyvazov wird in seinem typischen weißen Maßanzug zu Calaf, Heather Engebretson im weißen Kleid wird zu Liù. Möglich wird das mit der Videoprojektion von Astrid Steiner, bei der die Bücherwand zu einer chinesischen Landschaft wird, die im Hintergrund erscheint. Während der Exekutionsszene des persischen Prinzen, gesungen von Patrick Hurley, in seiner Panik getanzt von Gabriele Ascani, treffen Timur und Liù auf Calaf, der der Prinzessin Turandot verfallen ist.

Puccini schwelgt in Exotismen mit zwei typischen Operndiven: der männermordenden gefährlichen Turandot (Anna Netrebko) und der opferbereiten sanften Liù (Heather Engebretson), die ihr Leben für den Tatarenprinzen Calàf hingibt. Mit pentatonischen Elementen erzeugt er vermeintlich chinesisches Lokalkolorit. Die Minister tragen schwarze Gewänder mit schwarzen Mänteln, der Kaiser und Turandot farbenfrohe chinesische Kostüme, und der Chor schwarze chinesische Gewänder mit schwarzen Kappen. Die Kostüme schufen Andrea Schmidt-Futterer und Frank Schönwald, das Einheitsbühnenbild mit Videos von Astrid Steiner die Regisseurin Daniela Kerck.

Puccini geht im Fragment seiner letzten Oper den Weg in die Bitonalität, vor allem in den Chören. Dazu kontrastieren perfekt die lyrischen Ariosi der Liù wie:  „Signore, ascolta“ und „Non piangere Liù“, des Calàf. Sein Arioso: „Nessun Dorma“ wurde, spätestens 1990 mit der Drei-Tenöre-CD, zum Welt-Hit. Die am 25. April 1926 in der Mailänder Scala uraufgeführte „Turandot“ ist im Gegensatz zu anderen Opern Puccinis seltsam oratorienhaft, sehr textlastig, und szenisch passiert nach der Exekution des persischen Prinzen nicht viel. Turandot, die Titelfigur, ist offensichtlich traumatisiert – sie spricht von der Vergewaltigung einer Ahnin, die ihr nahe geht – und lebt dadurch, dass sie reihenweise Männer hinrichten lässt, die es wagen, sich um ihre Hand zu bewerben und die an ihren kryptischen Rätseln scheitern. Ihr Vater, der Kaiser, kann das grausame Ritual nicht beenden. Calàf ist von der Idee besessen, diese eiskalte Prinzessin zu erobern und zu besitzen und gibt sich mit seiner Liebe in ihre Hand. Er riskiert trotz aller Warnungen der drei Minister und des Kaisers Leib und Leben, weil ihm seine Obsession für diese Frau über alles geht.

Selbst nachdem Calàf die drei Rätsel gelöst hat, also formal gesiegt, gibt er erneut sein Leben in die Hand Turandots, weil er will, dass sie ihn liebt. Indem er erklärt, wenn sie bis zum Morgengrauen seinen Namen nennen könne, werde er sterben, löst er eine Nacht des Terrors über Peking aus: „Nessun dorma!“ Jeder, der in dieser Nacht schlafend angetroffen wird, hat sein Leben verwirkt, wenn er nicht den Namen des Prinzen nennen kann. In dieser Situation wendet sich das Volk gegen Calàf und fordert ihn auf, auf Turandot zu verzichten. Dann fokussiert sich der Zorn auf Liù, die sich weigert, den Namen zu nennen. Diese abgedrehte Geschichte ist so spannend, weil die Staatsmacht aus den Exekutionen der Bewerber ein Spektakel für das blutrünstige Volk macht, das Puccini in den suggestivsten Chorsätzen bis hin zur Bitonalität vertont. Liù entzieht sich der angedrohten Folter, indem sie sich mit einem Messer ersticht, das ihr einer der Minister zuspielt.

Puccini hat der Prinzessin Turandot als lyrisches Element das chinesische Volkslied „Mandelblüte“ zugeordnet, das immer stärker das bizentrische Hinrichtungsmotiv überlagert. Damit deutet Puccini an, dass sie sich in den Prinzen Calàf verliebt und sich ihm schließlich hingibt, aber Puccini selbst hat den dritten Akt nicht vollendet, als ob es ihn nach dem Tod Liùs nicht mehr interessiert hätte, ob Calaf sein Ziel erreicht oder nicht. So sieht es auch die Regisseurin. Man verzichtet darauf, die von Alfano ergänzten Teile des dritten Akts zu spielen, sondern singt im Stil eines Kirchenchors ein Requiem, das Puccini 1905 komponiert hat. Dabei erkennt man die enorme Entwicklung der Tonsprache Puccinis, die in den letzten 20 Jahren seines Lebens stattgefunden hat. Die tote Liù wird wieder zu Puccinis Hausmädchen Doria, das China der Oper wird zur Bibliothek.

Der wahre Star der Inszenierung ist der präzise blutrünstige Opernchor unter der Leitung von Albert Horne, der bei der Exekution des persischen Prinzen aufheult wie ein wildes Tier. Die Massenhysterie bei Hinrichtungsspektakeln hat wohl niemand so beeindruckend komponiert wie Puccini. Besonderes Lob verdient auch der Kinderchor der Limburger Dommusik, der den Chor und Extrachor des Staatstheaters ergänzt.

Puccini hat hier das Bild der traumatisierten frigiden Frau auf die Bühne gebracht. Zu seiner Zeit machten sich erstmalig Psychotherapeuten Gedanken über die sexuelle Erfüllung der Frau, ein Tabuthema, das Puccini nur unter dem Mantel des Exotismus behandeln konnte. Puccini kontrastiert die grausame Turandot mit der sanften Liù, die sich für Calàf aufopfert.

Anna Netrebko als Turandot ist die große Diva, die zunehmend in Panik gerät, als Calàf das erste Rätsel gelöst hat. Mit einer Maske, nur ganz selten ihr Gesicht zeigend, stellt sie mit starken Tönen das Prinzip ihrer Keuschheit über alles. Sie bewältigt mit absoluter Präzision die extremen Intervallsprünge und stellt ergreifend ihre Panik dar, als Calàf ihre Rätsel löst. Aber auch die lyrischen Momente in der Annäherung an Calàf gelingen ihr perfekt. Yusif Eyvazov, ebenso besessen wie das Objekt seiner Begierde, ist der heißblütige Calàf, nicht ganz so differenziert, der sein Leben in die Hand der männermordenden Turandot gibt. Er denkt genau wie sie, sonst könnte er ihre kryptischen Rätsel nicht lösen. Sein kräftiger heldischer Tenor blüht auf im Duett mit Turandot, und „Nessun dorma“, die kurze Arie im dritten Akt, bekräftigt noch einmal die Siegesgewissheit des Prinzen.

Staatstheater Wiesbaden/TURANDOT/H. Engebretson/Foto: Karl und Monika Forster

Großen Beifall bekam auch die unfassbar verletzliche Liu von Heather Engebretson. Sie hat mit ihren Ariosi, die von schmeichelnden Holzbläsern begleitet werden, eine überaus dankbare Partie und ist, wie Mimi und Butterfly, das perfekte hingebungsvolle Opfer, das mit unvorstellbar himmlischen Kantilenen ihr Leben für Calàf hingibt.

Der zweite Akt wird weitgehend von den Ministern Ping (Christopher Bolduc), Pong (Gustavo Quaresma) und Pang (Ralf Rachbauer) bestritten, die das Buffo-Element beitragen und Calàf wortreich vor seinem Plan warnen. Eine Luxusbesetzung ist Young Doo Park mit edel strömendem Bass als Timur.

Die Lichtregie von Klaus Krauspenhaar und die Videoeinspielungen von Astrid Steiner mit den auffliegenden Vögeln und aufgewühltem Meer erzeugen eine stimmige Atmosphäre. Anna Netrebko und Yusif Evayzov als Gaststars haben sich nahtlos in die Inszenierung eingefügt. Netrebko überraschte mit einer mädchenhaft schlanken Figur, die im langen schwarzen Etuikleid mit breiter bunter Schärpe besonders gut zur Geltung kam, und Eyvazov sah im weißen Maßanzug aus wie Giacomo Puccini.

Anna Netrebko ist vermutlich die derzeit bekannteste Operndiva der Welt und in ihrem Repertoire unübertroffen. Das hat man am Samstagabend wieder gesehen und erlebt. Bei der Rätselszene Turandots mit Calàf brannte die Luft. Die Fahrt nach Wiesbaden hat sich in jedem Fall gelohnt, denn ich habe eine bildstarke Inszenierung mit Spitzenstars und einem sehr guten Ensemble und Chor gesehen.

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Staatstheater Wiesbaden / Stückeseite
  • Titelfoto: Staatstheater Wiesbaden/TURANDOT/ Foto: Karl und Monika Forster (Von der Vorstellung mit Anna Netrebko gibt es seitens des Staatstheaters Wiesbaden keine offiziellen Fotos)
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