Ein Dreispartentheater an der Seine

Am 31. März 1913 wurde das Théâtre des Champs-Elysées in Paris eingeweiht. Das Haus hat Architektur-, Theater- und Musikgeschichte geschrieben.

Marc Zitzmann
Drucken
Der Innenraum des Pariser Théâtre des Champs-Elysées im Jahr 1913. (Bild: Maurice Branger / Roger Viollet / keystone)

Der Innenraum des Pariser Théâtre des Champs-Elysées im Jahr 1913. (Bild: Maurice Branger / Roger Viollet / keystone)

Das Pariser Théâtre des Champs-Elysées (TCE) trägt seinen Namen zu Unrecht: Es befindet sich über einen halben Kilometer von der berühmtesten Avenue der Welt entfernt, am andern Ende der Avenue Montaigne, die am Rond-Point der Champs-Elysées von der Prachtstrasse abzweigt. Zwar hatte die Pariser Stadtverwaltung dem Konzertveranstalter Gabriel Astruc 1906 eine Bauerlaubnis für einen «Palais philharmonique» auf einem Gelände am Rond-Point der Champs-Elysées erteilt. Doch zog sie diese drei Jahre später nach einer heftigen Kampagne zurück – Astruc hatte eine zusammengewürfelte Koalition gegen sich, die von Antisemiten bis zu Ökologen vor der Zeit reichte. In der Nähe der Seine wurde eine andere Parzelle gefunden, die freilich die Eingliederung des Theaters in den Baubestand erforderte. In finanzieller Hinsicht ein Vorteil: Statt rundum repräsentative Fassaden, wie bei einem freistehenden Bau, war so nur eine einzige schmucke Front zur Avenue Montaigne hin nötig.

Stahlbeton und «Vierer-Kartell»

Das TCE sollte ursprünglich «Théâtres des Champs-Elysées» heissen. Der Plural hätte auf die drei Säle von 2000, 1200 und 800 Plätzen verwiesen, welche die Privatinstitution unter einem Dach vereinen sollte – damals eine Neuheit. Am Ende wurden lediglich der 1905 Zuschauer fassende Konzert- und Opernsaal sowie der 630 Sitzplätze bietende Sprechtheatersaal der Comédie des Champs-Elysées erbaut (zu denen sich 1923 ein über der Comédie eingerichtetes Studio mit 250 Plätzen gesellte). Wie um den Plural in seinem ursprünglichen Namen zu bestätigen, hat das TCE gleich in drei Sparten Kulturgeschichte geschrieben. Erstens Architekturgeschichte: Der Theaterbau ist einer der ersten – wo nicht der erste – in Frankreich mit einer Struktur aus Stahlbeton. Die Architekten, die seit 1906 für Astruc Pläne ausgearbeitet hatten, sahen alle eine Metallstruktur vor. 1910 wurde der Belgier Henry Van de Velde engagiert, der die klassischen Entwürfe seiner Vorgänger mit etwas Art nouveau auffrischte und erstmals eine Betonstruktur in Erwägung zog. Auguste und Gustave Perret, nicht als Architekten, sondern als Bauunternehmer zu Rate gezogen, machten sich Van de Veldes Entwurf zu eigen und modifizierten ihn dergestalt, dass sie den innert bloss zweier Jahre errichteten Bau als ihr eigenes Werk ausgeben konnten. Zumindest die Struktur, ein mit Ziegelsteinen ausgefülltes Skelett aus Stahlbeton, das im grossen Saal auskragende Balkone ohne Pfeiler erlaubt, ist ihre Schöpfung. In diesem rationalistischen, baugeschichtlich bedeutenden Schrein entfalten die Marmorfriese von Antoine Bourdelle, die Malereien von Maurice Denis und Emile Vuillard und die Leuchter von René Lalique ihre hier gräzisierende, da müde jugendstilhafte Pracht.

Zweitens Theatergeschichte: Die heutige Comédie des Champs-Elysées war dank dem Wirken von Firmin Gémier, Georges Pitoëff und vor allem Louis Jouvet in der Zwischenkriegszeit ein théâtre d'essai von internationaler Ausstrahlung. 1927 gründete Jouvet mit den gleichgesinnten Regisseuren Gaston Baty, Charles Dullin und Pitoëff das «Cartel des Quatre», einen Verband zur Förderung der zeitgenössischen Dramatik – die Statuten wurden auf einem Briefpapier der Comédie des Champs-Elysées aufgesetzt. Wichtige Uraufführungen waren 1923 «Knock» von Jules Romains (eine Komödie, die Jouvet innert 25 Jahren nicht weniger als 15-mal inszenieren würde) und dann 1928 «Siegfried» von Jean Giraudoux. Nach dem Krieg fungierte Jean Anouilh dreissig Jahre lang als eine Art Hausautor. Doch wurde die Comédie je länger, desto mehr zu einem Ort der kultivierten Unterhaltung für gebildete Grossbürger, die sich hier durch Privattheater-Stars die Alltagssorgen vertreiben liessen. Die Erstinszenierung von Yasmina Rezas Welterfolg «Art» 1994 mit Pierre Arditi, Fabrice Luchini und Pierre Vaneck bildete einen Gipfelpunkt dieser Auffassung von Theater.

Dissonanzen und Wohlklänge

Drittens Musikgeschichte: Am Konzert zur Eröffnung des grossen Saals am 31. März 1913 dirigierten unter anderen Claude Debussy, Paul Dukas und Gabriel Fauré eigene Werke. Auf den Jahrhundertskandal der Uraufführung von Igor Strawinskys und Vaslav Nijinskys Ballett «Le Sacre du Printemps» am 29. Mai 1913 wird in diesen Spalten noch zurückzukommen sein. Einen ähnlichen Tumult verursachte 1954 «Déserts» von Edgar Varèse. Doch auch da verlor sich bei den Programmgestaltern peu à peu der Wagemut der Anfänge. Heute ist das von 1987 bis 1989 von Grund auf renovierte TCE vornehmlich ein Tempel der konsonanten Berieselung für die gegen zeitgenössische Dissonanzen allergischen Ohren der Bewohner der wohlsituierten 8. und 16. Pariser Arrondissements sowie der westlichen Vorstädte. Solisten und Orchester von Weltrang geben sich hier die Klinke in die Hand, ohne dass freilich auch nur versucht würde, im Saisonprogramm Schwerpunkte zu setzen oder Zusammenhänge zu schaffen. Auch im Tanz- und Opernbereich gehen vom TCE kaum neue Impulse aus – 1920 bis 1925 war das Haus immerhin der Sitz von Rolf de Marés Ballets suédois gewesen. Hingegen hat das TCE seit den 1990er Jahren die historische Aufführungspraxis in Paris recht eigentlich salonfähig gemacht.