Ausstatter und Regisseur Reinhard von der Thannen.

Foto: Salzburger Festspiele/Anne Zeuner

Mephisto und Faust werden einander immer ähnlicher. Im ellipsenförmigen Grundraum errichtet der Klumpfüßige die unterschiedlichsten Szenarien: Kirche, Kirmes, Kerker und Marguerites Zimmer.

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STANDARD: In Ihrer Brust wohnen nicht nur wie bei Faust zwei, sondern gleich drei Seelen: Sie machen Kostüme, Bühnenbild und, zum ersten Mal bei den Festspielen, auch Regie ...

Von der Thannen: ... und zunächst dachte ich: Wenn ich mir nur eine Sekunde wirklich bewusst werde, dass ich Bühne, Kostüme und Regie für das Große Festspielhaus mache, sterbe ich auf der Stelle! Aber dann sagte ich mir: Tu doch einfach so, als ob du in Dornbirn aus deinem Elternhaus gehst und ein Stück am Kornmarkttheater inszenierst. Es gab Tage, da war ich völlig entspannt während der Proben – manchmal hörte ich ein halbe Stunde früher auf, weil ich glaubte, dass mir der Kopf platzt! Es war ein Zustand zwischen Rausch und Qual. (lacht)

STANDARD: Ausstatter oder Regisseur – wer setzt sich bei inhaltlichen und künstlerischen Fragen durch?

Von der Thannen: Natürlich der Regisseur! Ich genieße die künstlerische Freiheit einer kompromisslosen ästhetischen Dimension, arbeite aber immer sehr stark dramaturgisch. Bei "Faust" habe ich mit dem Chor begonnen, habe eine karnevaleske Gesellschaft entworfen, die sich sehr schnell über Accessoires wie Helme, Zylinder, Frauenperücken den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten zuordnen lässt.

STANDARD: Lässt sich Ihre Inszenierung einer Zeit, einem Ort zuordnen?

Von der Thannen: Ich ertrage kein Lokalkolorit, sondern ich arbeite mit einer Art Folienprinzip, bei dem verschiedene Zeitebenen wie transparente Folien übereinander gelegt werden und sich wie in einem Kristall brechen: im Falle von "Faust" sind es die Goethe- und die Gounod-Zeit, die gedachte Zeit der "Faust"-Legende und die Gegenwart. Was als Essenz übrigbleibt, ist für mich der ästhetische Bezugsrahmen für Bühne und Kostüm. Während der Vorbereitung kamen mir auch die Platinplatten mit Musik von Mozart und Bach, mit der Relativitätstheorie von Einstein sowie, glaube ich, "Satisfaction" von Mick Jagger in den Sinn, die in den 1970er-Jahren mit den Raumsonden Voyager 1 und 2 ins Weltall geschickt wurden – als Botschaften an ein mögliches außerirdisches Leben. Bei "Faust" musste ich auch so etwas wie Voyager sein: Was nehme ich aus der Kindheit, aus der Jugend, aus meinem 58-jährigen Leben mit für diesen Stoff? Und was von all dem bleibt übrig?

STANDARD: Bei Gounods "Faust" geht es um Liebe, Verführung, Manipulation. Ist es das, was die Welt im Innersten zusammenhält?

Von der Thannen: Nein, ich glaube, es ist die Angst. Wir werden, mehr als wir wahrhaben wollen, von Angst, von Todesangst geleitet. Im "Faust" ist dieses Thema der Ausgangspunkt. Die Sehnsucht nach Jugend und Sinnlichkeit, die Margarete versinnbildlicht.

STANDARD: Und Maria Agresta ist dieses Gretchen?

Von der Thannen: Ich sah Maria vor Beginn der "Faust"-Produktion nur einmal, als sie die "Norma! in Zürich sang: in hochstilisierter Maske und extravagantem Kostüm, in einer Inszenierung von Bob Wilson. Und dann kam diese sehr intelligente, bescheidene, schöne und energetische Frau: eine wunderbare Sängerin und Darstellerin. In diesem Moment wurde mir klar, dass das Kostüm, das ich für Gretchen entworfen hatte, nicht funktionieren wird. Falscher Stoff, falscher Schnitt. In den nächsten drei Nächten konnte ich kaum schlafen, bin im Kreis gelaufen. Dann war mir klar, dass Marias Kostüm fließen und schwingen muss!

STANDARD: Wie interpretieren Sie die Beziehung zwischen Faust und Mephisto?

Von der Thannen: Das Verhältnis zwischen Faust und Mephisto ist für mich eine Art negative Wahlverwandtschaft, in der die Zerrissenheit des modernen Menschen zwischen Irrationalität und Rationalität zum Ausdruck kommt. Im Laufe des Stücks werden die beiden einander äußerlich immer ähnlicher, bis sie am Ende die gleichen Kostüme wie die Gesellschaft selbst tragen und sich in dieser verlieren. Es ist wie bei Polanskis "Tanz der Vampire": Am Ende dieses genialischen Filmes denkt man, alles Böse hat ein Ende, es ist besiegt und aus der Welt geräumt. Und dann bleibt das Böse doch in der Welt – unter uns, in uns.

STANDARD: Was ist das Böse?

Von der Thannen: Der Philosoph Jean Baudrillard schreibt in "Die Intelligenz des Bösen": "Es gibt keinen Himmel und keine Hölle im religiösen Sinne und kein moralisches Statement zu Gut und Böse. (...) Die Idee des Bösen wie auch die Idee einer bösartigen Kraft, einer unheilvollen Instanz, einer bewussten Pervertierung der Weltordnung sind ein zäher Aberglaube." Mephisto ist für mich kein Magier, Zauberer oder eine Höllengestalt im religiösen Sinne, sondern eine hochintelligente Theaterfigur, ein Analytiker, ein Spötter, ein Immoralist, ein Beobachter von außen.

STANDARD: Ein skrupelloser, cooler Hund, der mit den Menschen wie mit Schachfiguren spielt?

Von der Thannen: Ich suche in jedem Theaterstoff nach einer Identifikationsfigur. Dieses Mal fiel es mir schwer, und ich schwanke bis dato zwischen Faust und Mephisto. Mephisto zeigt bisweilen eine bissige Verachtung der menschlichen Illusion und setzt sein enormes Verführungspotenzial gezielt für Manipulationen ein. Er ist auch der Einzige, der innerhalb der filmischen Kostümästhetik des "Faust" manchmal bewusst Theaterkostüme trägt. Und wo? Einmal in der Kirche, in die wir Taufscheinchristen so gern gegangen sind oder immer noch gehen, weil es so schön ist, so farbenprächtig, so ästhetisch ...

STANDARD: Nicht zu vergessen der theatralische Aspekt einer Messe ...

Von der Thannen: Na, mein Gott! Ich war leidenschaftlicher Ministrant in Dornbirn. Aber dann beschwerten sich ein paar Leute über diesen eitlen Ministranten, der während der ganzen Messe nur die Falten seines Messgewands drapieren würde.

STANDARD: Und wann trägt Mephisto noch ein Kostüm?

Von der Thannen: Das zweite Theaterkostüm trägt Mephisto, wenn er sich in die Gesellschaft einschleicht. Da muss er, weil er grundsätzlich gerne provoziert, frech und unmöglich aussehen, unerträglich geschmacklos sogar. Ich habe für ihn eine Art prothesenfarbigen Strampelanzug entworfen, mit barocker Schnürung im Rücken und üppigen Rüschen um den Hals. Auf dem Kopf trägt er einen aufwendigen Trachtenhut mit Rabenvogel.

STANDARD: Sie haben zunächst Schauspiel, dann Kostüm und Bühnenbild studiert. Können Sie eigentlich auch Partituren lesen?

Von der Thannen: Ja! Ich habe als Kind zunächst Akkordeon-, später Orgelunterricht bekommen und spiele bis heute leidenschaftlich einige Tasteninstrumente, bin mit einem sehr guten Musikgehör ausgestattet, welches mir erlaubt, Gehörtes relativ genau wiederzugeben. Während ich aber Räume und Kostüme mühelos vor meinem geistigen Auge errichten kann, errichtet sich beim Lesen einer Partitur nicht mit großer Leichtigkeit ein Klanggebäude, ich muss es mir hart erarbeiten.

STANDARD: Sie sagten einmal, Sie versuchen am Beginn einer neuen Produktion möglichst alles auszublenden?

Von der Thannen: Das stimmt. Ich reise dann mit meiner Frau an einen möglichst weit entfernten exotischen Ort in dieser Welt – oft in unsere Wahlheimat Indien. Wir reisen – um nur ein Beispiel zu nennen – auf Booten in die Backwaters in Südindien, und ich versuche, den Kopf so frei zu kriegen, dass ich frisch und fremd denken kann und nicht dem Zeitgeist hinterherjagen muss. Da ich als Kind sehr gut zeichnen konnte und oft vorgeführt wurde, dachte ich lange Zeit, Kunst ist Können. Später wurde von uns Studierenden viel Akademisches abverlangt. Aber diese Art von Können verhindert, den eigenen Weg zu finden! Man muss schon viel wegschaben, bis man den Mut hat, die innersten Bilder, die man als kreativer Mensch besitzt, zu zeigen und sich nicht dafür zu schämen.

STANDARD: Bei "Faust" geht es um Verführbarkeit, aber auch um Sehnsucht, Erfüllung. Was ist Ihre Sehnsucht?

Von der Thannen: Ich wollte immer bildender Künstler werden, habe es aber dann irgendwann durch viele Begegnungen mit Theaterleuten vergessen. (lacht) Auf Reisen denke ich manchmal: Jetzt habe ich genug Geld verdient und kann endlich malen. Dann kaufe ich mir Farben und Papier – aber dann träume ich doch wieder vom Theater. Denn das Theater ist mein wirklicher Sehnsuchtsort. (Andrea Schurian, 10.8.2016)