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Debüt an der Frankfurter Oper: „Ich meine, welche Flötistin sitzt denn mit der Partitur im Zug?“

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Die Dirigentin Giedre Slekyte im Foyer der Frankfurter Oper.
Die Dirigentin Giedre Slekyte im Foyer der Frankfurter Oper. © Renate Hoyer

Die Dirigentin Giedre Slekyte über Irritationen im öffentlichen Raum, die Einmaligkeit des Musiktheaterbetriebs und die Frankfurter Produktion von Francis Poulencs Oper „Dialogues des Carmélites“.

Frau Slekyte, singt in Litauen absolut jeder in einem Chor?

Es singen viele, das ist eine wichtige Tradition in den baltischen Staaten. Die Zeit vor der Unabhängigkeit Litauens von der Sowjetunion wird hier ja auch als Singende Revolution bezeichnet. Singen verbindet und stärkt. Es gibt tolle litauische Volkslieder und viele litauische Komponisten schrieben tolle Chorstücke, öfters von der Volksmusik inspiriert. Alle vier Jahre gibt es ein großes Songfestival für alle Litauer der Welt. Daran habe ich öfter teilgenommen. 12 000 Leute können auf einer speziell dafür gebauten Bühne zusammen singen. Das ist eines der ziemlich besten Gefühle, die man im Leben haben kann.

Auch Sie sind über das Singen zur Musik gekommen und dann vom Chordirigieren zum Orchester.

Das hängt mit einer Schule in Vilnius zusammen, die heute Nationale M. K. Ciurlionis Kunstschule heißt und die auch ich besucht habe. Hier habe ich unter anderem auch Chordirigieren gelernt. Beim Studium in Graz fing ich an, mich für das sinfonische Repertoire zu interessieren, in Leipzig habe ich bei einer „Zauberflöte“- Produktion an der Hochschule die Oper entdeckt. Oper ist wie eine Droge. Und mir wurde klar, dass ich ans Theater musste, um sie zu bekommen.

Wie haben Sie gemerkt, dass Sie dirigieren und nicht singen wollen? Das wird einem nicht in die Wiege gelegt.

Manchmal schon. Ich habe die Aufnahmeprüfung für diese Schule, Abteilung Chordirigieren, gemacht, da war ich sechs. Nicht die Wiege, aber früh. Zuerst habe ich im Chor gesungen und mit 14 auch Dirigierunterricht bekommen. Meine Eltern hatten sich vorgestellt, dass ich hier vielleicht vier Jahre singen und Klavier lernen würde, dann aber in eine „normale“ Schule wechseln. Sie haben niemals gedacht, dass ich die Schule absolvieren und anschließend Musik studieren würde.

Haben Sie sich als Dirigentin ermutigt gefühlt?

Ich kann nicht sagen, dass ich ermutigt worden bin, Dirigentin zu werden, das wäre übertrieben. Aber ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der Ausbildung und intellektuelle Herausforderungen eine wichtige Rolle spielten. Mein Vater ist Mathematiker, und ich habe mich mit ihm zum Beispiel auf Wettbewerbe für Mathematik vorbereitet, ziemlich erfolgreich. Ich hatte auch nie das Gefühl, ich sollte eher Flöte oder Harfe spielen, weil ich ein Mädchen bin. Es ärgert mich total, wenn Kommentare in diese Richtung kommen. Wenn ich im Zug eine Partitur vor mir habe und Leute sagen: ah, Sie spielen Flöte. Ich meine, welche Flötistin sitzt denn mit der Partitur im Zug?

Was macht Ihnen Freude am Dirigieren?

Das Miteinander, das Gefühl, dass es zu Momenten kommt, in denen es einfach miteinander funktioniert. Und dass man in der Musik ein Gefühl von Jetzt bekommen kann, das man sonst im Leben nur sehr selten zu spüren bekommt, glaube ich. Gemeinsam ein Gefühl von Jetzt zu haben. Das wäre für mich die emotionale Ebene. Auf der intellektuellen Ebene gefällt mir, dass man die Werke sehr tiefgründig kennenlernt, viel tiefgründiger, als wenn man nur eine Stimme hat. Man findet darin auch Antworten für das alltägliche Leben, und mit jedem Stück wächst man weiter, wird zu einem anderen Menschen. Welcher Job kann einen so extrem jedes Mal aufs Neue verändern?

Was wird von einer Dirigentin heute erwartet?

Es wird selbstverständlich erwartet, dass man gut vorbereitet ist und ein Stück handwerklich gut führen kann. Dass man eine ansteckende, mitreißende Kraft hat, die inspiriert und das Ganze energetisiert. Aber darunter versteht jeder etwas anderes. Was für den einen inspirierend ist, kann langweilig für andere sein und umgekehrt. Mir persönlich sind auch Sprachen sehr wichtig. Ich versuche, die Texte sehr gut zu verstehen. Ich kann mir nicht vorstellen, eine Oper zu machen, bei der ich nicht jedes Wort genau verstehe. Damit fange ich auch meistens an, und mit der Literaturvorlage, wenn es sie gibt. Dann erst folgt die Musik. Als ich vor kurzem eine „Rusalka“ machte, habe ich viel Zeit für Tschechisch investiert.

Machen das alle so?

Viele wollen jedenfalls nur Stücke dirigieren, bei denen sie die Sprache können. So hatte ich mir das auch vorgestellt. Ich dachte: Jetzt habe ich Deutsch, Englisch und Italienisch gelernt, kann Französisch zumindest lesen, jetzt wird es leichter für mich. Und dann kamen Angebote für tschechische Opern, und demnächst werde ich mich mit Russisch beschäftigen müssen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als noch mehr Sprachen zu lernen.

Der Opernbetrieb hat immer etwas Imperfektes. Das stört Sie nicht?

Im Gegenteil, es ist dadurch so eine Energie und Kraft. So viele Menschen, so viele unterschiedliche Aufgaben. Und es gibt die großen Momente, schon in den Proben. Auch in den „Carmélites“, als zum ersten Mal die finale Szene probiert wurde, die große Hinrichtungsszene. Das ist herzzerbrechend, Sie werden sehen. Und die Spannung, die Gemeinsamkeit, die gegenseitige Unterstützung, die da herrschten: 1000 Prozent. Das ist das Besondere im Theaterbetrieb. Und dann kommt noch die Musik dazu. Es war eine szenische Probe, ich war offiziell gar nicht dabei und nur auf der Bühne, weil es mich interessiert hat. Ich bin keine Dirigentin, die sagt: Hier ist mein Graben, das ist mein Arbeitsplatz, und was die anderen da machen, ist deren Sache.

Hat Ihr Beruf überhaupt Nachteile?

Es ist eine große Verantwortung, viel Stress. Es ist psychologisch anspruchsvoll. Es kann nicht immer alles gutgehen, man braucht immer wieder Lösungen, hat wenig Zeit dafür und muss schnell entscheiden. Oft geht es darum, was wichtiger und was weniger wichtig ist. Man ist nicht einfach frei und kreativ, es gibt immer einen sehr konkreten Rahmen. Es gibt außerdem die Befindlichkeiten im Orchester, hinter jedem Instrument ist ein Mensch, eine eigene Geschichte.

Zur Person

Giedre Slekyte, 1989 in Vilnius geboren, bekam dort ihre erste musikalische Ausbildung und studierte dann Dirigieren an der Kunstuniversität Graz, der Hochschule für Musik und Theater Leipzig und der Zürcher Hochschule der Künste. Von 2016 bis 2018 war sie 1. Kapellmeisterin in Klagenfurt, als Gastdirigentin hat sie etwa die Wiener Symphoniker, das Orchestre Philharmonique de Radio France, die Staatskapelle Dresden und auch das HR-Sinfonieorchester geleitet, Oper u.a. in Leipzig, Zürich, Antwerpen dirigiert. 2021/22 wird sie Erste Gastdirigentin des Bruckner Orchesters Linz.
Ihr Debüt an der Oper Frankfurt mit einer Wiederaufnahme der „Entführung“ ist im Dezember am Lockdown gescheitert, jetzt debütiert sie mit Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“, die sie in der Neuinszenierung von Claus Guth leitet – der ersten szenischen Neuproduktion des Hauses seit der Wiedereröffnung. Maria Bengtsson ist als Blanche zu erleben. Premiere ist am Sonntag, 18 Uhr, weitere Vorstellungen am 8., 10., 12., 14. Juli. Dass seit wenigen Tagen wieder deutlich mehr Karten verkauft werden dürfen, erhöht die Chancen auf Wunschplätze erheblich. www.oper-frankfurt.de

Orchestermitglieder sind heute sehr gut ausgebildet, aber Sie sagen an.

Es reicht ja auch nicht, dass jemand sehr gut spielen kann. Dadurch passiert noch keine Oper.

Reden Sie gerne mit, was die Inszenierung betrifft?

Wenn es gut funktioniert, bereichert man sich die ganze Zeit. Das ist hier ein Paradebeispiel dafür. Ich war schon vorher ein Fan von Claus Guths Arbeiten.

Aber was machen Sie, wenn es nicht läuft?

Das ist schwierig. Vor allem, wenn man sieht, dass jemand sein oder ihr Bestes gibt. Das kann auch im Orchester passieren: Ein Solo, und man hat einen völlig anderen Geschmack. Ich finde nicht, dass man als Dirigent dann jede Note auseinandernehmen sollte. Es ist ein Solo, es muss auch die Möglichkeit geben, es solistisch auszuführen. Das gilt auch für die Sänger, die sich schließlich ebenfalls mit ihren Rollen beschäftigen, sich Gedanken machen. Wenn diese Gedanken komplett konträr zu meinen Vorstellungen sind, dann muss man Kompromisse suchen. Stellen aussuchen, die einem besonders wichtig sind. Und man muss sich sagen: Okay, das ist jetzt die Idee von dieser Person und die nehme ich auf. Und vielleicht denke ich in zwei Jahren auch so, wer weiß.

Und würden Sie sich auch in die Regie einschalten?

Was das Konzept betrifft, würde ich nicht mitreden, das erscheint mir kontraproduktiv. Wenn man mit der Ästhetik nicht einverstanden ist, ist das eben auch Teil des Jobs. Aber in einem gut funktionierenden Team kann man darüber sprechen, dass sich die oder die Stelle nicht gut anfühlt.

Die „Gespräche der Karmeliterinnen“: Was ist das aus Ihrer Sicht für eine Art von Werk?

Wie schon der Titel sagt: Es geht sehr um den Text. Er war für einen Film geschrieben, daraus wurde ein Schauspiel. Und das merkt man noch. Die Sprache dominiert alles. Es sind Dialoge, die aber fast immer aneinander vorbei gehen. Die Figuren haben sehr unterschiedliche Musiken und in unserem Cast völlig unterschiedliche Stimmen, was dem Stück extrem zugutekommt. Es gibt keine größeren Ensemblestellen, sie singen praktisch nie zusammen außer bei Gebeten. Auch spannend: Sie können sich nicht treffen, weder inhaltlich noch musikalisch. Nur im Gebet. Deshalb habe ich alles getan, was möglich war, Hashtag Corona, damit wir die Gebete akustisch live haben. Der Damenchor kann vom Dritten Rang aus singen.

Die Instrumentierung ist auch eigen.

Es ist sehr schön instrumentiert, wir müssen leider auf manche dieser wunderbaren Instrumentierungen verzichten, vielleicht fehlt am meisten der Blechbläsersatz. Trotzdem ist es eine erste große Premiere nach dem Lockdown in diesem Haus und auch für mich wieder die erste szenische Premiere. Es sind Kompromisse dabei, aber wir haben trotzdem noch viele fantastische Möglichkeiten, das Stück zu präsentieren.

Was ist die größte Hürde für Sie als Dirigentin bei diesem Werk?

Die Generalpausen. Es gibt sehr viele Generalpausen. Sobald man das Gefühl hat, es kommt ein bisschen in Fluss, dann ist die nächste Generalpause. Poulenc schreibt dann meistens noch „tres long“. Man begreift schon, dass es dabei oft um innere Stimmungswechsel geht, und Claus Guth geht auch mit diesen Stellen großartig um. Aber das Orchester kann das natürlich nicht sehen, es sieht nur, dass da schon wieder ein Pausenzeichen kommt. Die Schwierigkeit ist, die Spannung zu halten und es nicht zerstückelt klingen zu lassen. Wichtig erscheint mir dafür die Qualität der jeweils letzten Noten in diesen fragmenthaften Szenen.

Können Sie mit der Handlung etwas anfangen? Muss man dafür katholisch sein?

Ich finde die Vorlage für Film- und Schauspieltext, „Die Letzte am Schafott“, sehr spannend...

... die Novelle von Gertrud von le Fort ...

... und ich habe mich intensiv mit der Französischen Revolution beschäftigt. In der Inszenierung spielt der historische Rahmen allerdings keine Rolle, damit konnte ich mich gut anfreunden. Auch in der Musik sind die Ereignisse zwar da, aber die Zustände der Menschen stehen unabhängig davon im Vordergrund. In erster Linie Blanche, die eine Wahnsinnsreise durchmacht. Sie sehnt sich nach Antworten, bekommt sie aber nicht. Alles, was sie versucht, erweist sich als falsch, und sie ist auch mit sich selbst nicht mehr zufrieden. Einmal wird sie auch unglaublich grob und verachtend zu Constance, als ich das – im Buch ist es etwas anders – in der Partitur gelesen habe, war ich schockiert. Ich hatte mir Blanche zuerst als ängstliches, nettes Wesen vorgestellt. Ihre Frage war natürlich eine ganz andere. Nein, ich glaube, man muss nicht katholisch sein, um mit dem Stück was anfangen zu können.

Interview: Judith von Sternburg

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