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Man muss diesen „Parsifal“ zweimal erleben: Jay Scheib über seine Bayreuther Inszenierung

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Jay Scheib
„Wagner wäre damit zufrieden“, sagt US-Regisseur Jay Scheib (53) über sein Konzept. © Daniel Vogl/dpa

In zwei Welten wird sich der neue „Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen ereignen: in einer analogen auf der Bühne und in einer digitalen. Letztere kann man nur mit „Augmented-Reality-Brillen“ erleben, doch aus Kostengründen wurden lediglich 330 angeschafft. Premiere ist am 25. Juli, Regie führt der US-Amerikaner Jay Scheib. Eine Begegnung in Bayreuth.

Besucher mit Augmented-Reality-Brille
Um die digitalen Effekte zu erleben, muss das Publikum Augmented-Reality-Brillen tragen. Doch leider gibt es nicht genug Exemplare für alle. © Bayreuther Festspiele

Wie wichtig ist die AR-Brille, um das Konzept zu verstehen?

Sie erweitert das bestehende Konzept um eine weitere Ebene. Eigentlich gibt es zwei Konzepte, also wäre es im Grunde notwendig, dass man unseren „Parsifal“ zweimal erlebt. Durch die AR-Brille wird eine Menge an Ideen und Einflüssen hinzugefügt, die man sonst nicht sieht. Wir hatten uns überlegt, ob wir manche Dinge davon in ein für alle sichtbares Video-Design einbauen, aber die Bühne war nicht dafür geplant, also existiert dieser „Parsifal“ damit in unterschiedlichen Versionen.

Vor allem in den Siebzigerjahren holte man Schauspielregisseure in die Oper, dann kamen die Kinoleute. Sind jetzt die Digital-Experten, die Techniker dran?

Ich halte das alles für eine natürliche Entwicklung. Auch Filmleute holen ja immer mehr Digital-Experten für ihre Produktionen. Beim Radio ist es ebenfalls so. In fast jedem Medium wird das Digitale immer wichtiger, um einen ganz bestimmten künstlerischen Ausdruck zu erzielen. So entwickelt sich die Welt eben gerade.

Ist ein digital angereicherter „Parsifal“ in Bayreuth ein besonderes Risiko, wenn Sie ans Publikum denken? Wäre das in Frankfurt oder Berlin leichter?

Das weiß ich nicht. Andere Spielstätten sind vielleicht nicht einem solchen Traditionsdruck ausgesetzt wie Bayreuth. Aber im hellen Licht der Tradition können auch viele Novitäten passieren. Meine Erfahrungen mit Bayreuth sind, dass dieses Licht hier auch auf Innovationen scheint. Denken Sie an Richard Wagner: „Kinder, macht Neues.“ Ich könnte mir vorstellen, dass er mit diesem „Parsifal“ zufrieden gewesen wäre.

Wann haben Sie Bayreuth erstmals erlebt?

Kurz vor der großen Weltveränderung. 2019 war meine erste Festspielzeit, während der ich vieles angeschaut habe. Dann kam Corona, und 2021 lud mich Katharina Wagner ein, ein Vorab-Projekt zu entwickeln. Daraus wurde die Aktion mit Virtual-Reality-Brillen, bei der jeder Bayreuth-Gast vor der Vorstellung und in den Pausen drei Minuten lang gegen einen Drachen kämpfen konnte. Das kam sehr gut an.

Hätten Sie denn jemals daran gedacht, auf dem Grünen Hügel, auf diesem merkwürdigen Wagner-Planeten, zu arbeiten?

Bayreuth war für mich immer ein Traum. Schon als ich Student war, empfand ich dies als sehr wichtigen Ort der Innovation. Das begann ja schon zu Richard Wagners Zeiten mit dem verdeckten Orchestergraben. Dazu die Architektur mit den gestaffelten Proszenien. Später kam eine noch nie dagewesene Beleuchtung dazu. Und wenn Sie all die revolutionären Inszenierungsideen bedenken... Bayreuth ist kein Ort von gestern.

Würden Sie sich als Wagnerianer bezeichnen?

Nein. Ich kenne manche Wagnerianer, die „Parsifal“ schon 70-mal gesehen haben und daher zu wissen meinen, wie es geht. Ich habe auch mehrere junge Leute kennengelernt, die schon richtig drin sind in diesem Kosmos. Ich bin dran, es dauert noch ein wenig...

„Parsifal“ ist für dieses Haus geschrieben, er gehört zur Bayreuth-DNA. Ist das ein besonderer Druck, anders als zum Beispiel im Falle eines „Tannhäuser“?

Allein die Bezeichnung „Bühnenweihfestspiel“ zeigt, wie singulär der „Parsifal“ ist. Ich habe ihn in anderen Häusern gesehen, und in Bayreuth empfinde ich ihn tatsächlich als sehr besonders. Ich weiß nicht, ob man sich als US-Amerikaner der Sache anders nähert. Für mich ist das vielleicht keine religiöse Angelegenheit. Aber der „Parsifal“ ist ein Symbol für Bayreuth. Er ist Wagners Kirche. Und trotzdem sage ich mir: Let‘s get the Party started.

Geht „Parsifal“ gut aus? Gibt es ein Happy End? Es heißt doch zum Beispiel in Wagners Regie-Anweisung: „Kundry sinkt entseelt zu Boden“.

Ich finde schon, dass alles gut ausgeht. Bei mir wird es auch doppelbödig bleiben, ob Kundry überlebt. Ob sie alle verlässt, um ihr besseres Leben zu leben. Oder ob sie in etwas großes Unbekanntes geht. Warum sollte sie sterben?

Aber man könnte doch sagen, dass alles weitergeht wie bisher. Parsifal ist eine Art Prince of Wales für Gralskönig Amfortas. Er beerbt ihn und führt künftig diese auf sich konzentrierte Männerrunde an.

Für mich ist es so, dass wirklich der Gral zum letzten Mal enthüllt wird – so wie es auch die Ritter singen. Es gibt also keine gralssüchtige Gesellschaft mehr. Es muss etwas anderes kommen, aber wir wissen noch nicht, wie es aussehen wird. Alle gehen in eine neue Zukunft. Oder denken Sie an den zweiten Akt zuvor, wenn Parsifal Kundry küsst und plötzlich alles begreift. Das ist eine unglaublich spannende psychologische Sache. Wir gehen mit Parsifal auf eine psychoanalytische Tournee in seine Kindheit. Alles deutet darauf hin, dass mit Parsifal ein komplett anderer Mensch ins Zentrum rückt. Er öffnet für die Gralsgesellschaft eine große Tür, und vielleicht befreit er alle. Das Stück ist für mich außerdem nicht nur „Bühnenweihfestspiel“, sondern auch eine starke Familiengeschichte – allein, wenn man das Verhältnis von Amfortas zu seinem Vater Titurel anschaut. Oder denken Sie an Parsifals Mutter, von der immer gesungen wird. Eine Alleinerziehende, die von ihm verlassen wurde. Er trägt daher ein großes Loch in seinem Herzen.

Haben Sie Angst davor, dass Sie abgestempelt werden à la „Das ist der Mann mit den Brillen“?

Das ist eine lustige Frage. Als ich anfing als Regisseur, bin ich einmal ans Deutsche Theater Berlin gegangen und ein Dramaturg dort sagte mir: „Deine verschiedenen Projekte sehen total unterschiedlich aus. Vielleicht wäre es besser, wenn du dich auf einen Stil konzentrierst – dann wissen wir, was wir bekommen.“ Das hat mich echt getroffen. Und ich dachte mir: Wow, deshalb sehen die Arbeiten mancher Regisseure alle ähnlich aus. Klar gibt es bei mir oft Technologie in irgendeiner Form. Ich habe keine Angst davor, dass ich mit den AR-Brillen identifiziert werde. Einfach, weil ich auch viele andere Dinge ausprobiere. Manchmal zum Beispiel nur mit zwei Lichtstimmungen.

Das Problem bei den Opernchefs ist also, dass sie immer nur das Label eines bestimmten Regisseurs einkaufen wollen? Seinen erwartbaren Stil?

Genau. Vielleicht sollte ich ja Intendant werden, um daran etwas zu ändern. Manchmal ist es schwer, sich mit anderen Visionen durchsetzen zu können. Die besten Intendanten sind diejenigen, die gern unterschiedliche Stile unterstützen. Eine Sache ist mir aber immer wichtig: Alles muss klar und lesbar sein.

Wie sind Sie in diese Wagner-Welt geraten?

Während meiner Zeit an der Universität als Theaterstudent in Minneapolis. Irgendwann gab es die Möglichkeit, eine Probebühne zu mieten – und ich habe dort gewohnt. Es war eine alte Kirche. Mit großen Glasfenstern, einer Bühne und einem kaputten Glockenturm. Im Winter war es richtig kalt, oft war morgens das Wasser in meinem Glas gefroren. Die Akustik war allerdings super. Dort hatte ich einen Plattenspieler und sechs oder sieben Platten. Von Miles Davis zum Beispiel, von Steve Reich, vom Kronos Quartet, „Einstein on the Beach“ von Philip Glass und eine Aufnahme von Wagners „Ring“. Manchmal habe ich das „Rheingold“-Vorspiel einen ganzen Tag lang gehört. Oberflächlich gesehen ist der „Ring“ ja eine Abenteuergeschichte, erst später entdeckte ich die Hintergründe.

Also wurden auch Sie Wagner-suchtkrank?

(Singt das Motiv der Gralsglocken.) Das ist doch der beste Ohrwurm aller Zeiten. Was mir erst jetzt gekommen ist zur Musik des „Parsifal“: Es wird in irrsinnig langen Sätzen geredet. Und manchmal antwortet jemand auf ein Argument erst zehn Minuten später. Dazwischen gibt es Raum, der mit Musik gefüllt ist. Diese trägt die Gedanken der Figuren. Daher habe ich mir irgendwann gesagt: Stopp, lass‘ die Figuren stillstehen, halte diese Ruhe aus – dann bekommt die Musik eine Chance und einen gewissen Platz, auch beim Publikum. Der „Parsifal“ braucht diese besondere Ruhe, diesen Puls. Sonst ist die Spannung weg, die sich manchmal innerhalb einer Figur aufbaut. Man kann dadurch als Zuhörer einen Moment lang gewissermaßen in seinen eigenen Gedanken sitzen und ihnen Raum geben.

Und wie viele Brillen wird es bei der Wiederaufnahme 2024 geben?

Das ist noch nicht entschieden. Ich hoffe, doppelt so viele. Und irgendwann gibt es genügend für alle. Außerdem entwickelt sich die AR-Technik sehr schnell. Sie wird irgendwann quasi normal sein. Ich glaube, dass spätestens im übernächsten Jahr auch viele Leute mit ihrer eigenen AR-Brille nach Bayreuth kommen. Und wir werden dafür sorgen, dass sie einfach nur unsere App herunterladen müssen.

Das Gespräch führte Markus Thiel.

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