Seit Jossi Wieler und seine leitende Regisseurin Andrea Moses das Zepter übernommen haben, gehören die Produktionen der Staatsoper in Stuttgart wieder zu den Pflichtterminen, wenn man sich über Wesentliches bezüglich Oper in Deutschland informieren will. Ohne sich beim Publikum anzubiedern, setzten sie auf die Ensemblekräfte und auf ein Musiktheater, das Teil des gesellschaftlichen Diskurses sein will und doch intellektuelle und ästhetische Opulenz bietet.

Dabei sind weder der Auftakt mit Fausts Verdammnis oder jüngst der Wozzeck (beide von Moses inszeniert) noch Sonnambula und das Schönberg/Janácek-Doppel Die glückliche Hand / Osud (Regie: Wieler) leichte Repertoirekost. Im Grunde versuchen Wieler/Moses das Prinzip des Künstlerintendanten etwas abgewandelt zu beleben. Wobei es gerade in Stuttgart auch die Mittel, das Ensemble, das Orchester und das Publikum für diese Art von rückbesinnendem Theater gibt.

Für den Doppelabend haben sie Schönbergs Die glückliche Hand und Janáceks Osud klug kombiniert. Schönberg wird dabei zum Prolog von Janáceks Künstler-Schicksalsoper. In der wird davon erzählt, wie Komponist Zivný seiner einst mit einem Sohn sitzengelassenen Jugendliebe Míla wieder begegnet, um mit ihr in einer bürgerlichen Kleinfamilienhölle zu landen. Dort leiden Frau, Sohn und Schwiegermutter am Genie und werden fast irre. Zur Katastrophe kommt es, als Schwiegermutter und Frau vom Balkon in den Tod stürzen. Bestechend ist dabei, wie Wieler seine Protagonisten unter der Führung von John Graham-Hall als Zivný allesamt zum anrührenden Spiel führt. Im Graben macht der designierte, bald das Team komplettierende Sylvain Cambreling seinen so schillernd süffigen wie analytisch klaren Zugang zum Plädoyer für diese beiden Künstleropern.

Aus Bergs Wozzeck wird dann bei Moses ein Drama aus der unmittelbaren Nachbarschaft jener spießigen Vororte, in denen die Wege gefegt und die verklinkerten Fassaden Festungsmauern sind: da, wo die Satzung des Schützenvereins die innere Verfassung ist und das (doppeldeutig) angekündigte "Jedermannschießen" ein Höhepunkt des Jahres.

Anders als Andrea Breth, die in Berlin im abstrakten Halbdunkel nach dem Büchner'schen "Abgrund Mensch" forschte, sucht ihn Moses bei Tageslicht. Christian Wiele hat dazu einen Spießer-Festungsturm auf die Drehbühne gesetzt. Mit einer Reihenhausfassade, die den Blick ins Schützenvereinshaus freigibt oder ins Arztzimmer, in dem offenbar auch Marie mit ihrem Sprössling campiert.

In die abgestumpfte Banalität der Gleichgültigkeit und des Schreckens passt es, dass die ermordete Marie im Abfallcontainer entsorgt wird, Wozzeck in der Wassertonne ertrinkt. Erspielt wird das handfest und in einer Atmosphäre, die zum sexuellen Übergriff tendiert. Claudio Otelli ist ein aggressiv verzweifelter Wozzeck. Der Doktor (Roland Bracht) experimentiert im Solde der Pharmaindustrie, der Hauptmann (Torsten Hoffmann) räsoniert im Dienste der eigenen Lüsternheit. Der Tambourmajor ist ein Lederjacken-Biker mit Machogehabe, von dem sich Marie (Frances Pappas) auf seinem Gefährt flachlegen lässt.

Wenn Wozzeck nach dem Mord ins Vereinshaus zurückkehrt, sieht es aus, als wären alle erstarrt. In Wahrheit ist er es längst. Im tief abgesenkten Graben lässt Michael Schønwandt das Orchester expressiv klingen. Stuttgart ist mit vier Neuproduktionen wieder auf dem Platz angekommen, den sie jahrelang schon einmal hielt: an der Spitze der deutschen Opernhäuser.  (Joachim Lange aus Stuttgart, DER STANDARD, 1.6.2012)