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Macht und Gewalt in Russland Von Thomas Molke / Fotos von Thomas Jauk
Wie bei zahlreichen anderen Opern muss man sich auch bei Mussorgskys Boris Godunow für jede Inszenierung zunächst einmal die Frage stellen, welche Fassung man spielen will, von den zahlreichen späteren Instrumentierungen durch Rimski-Korsakow und Schostakowitsch einmal abgesehen. Im Repertoire halten sich nämlich relativ gleichwertig zwei Fassungen, von denen die eine der "Ur-Boris", die andere der "Original-Boris" genannt werden. Während der in sieben Bildern konzipierte "Ur-Boris" zunächst nicht zur Uraufführung gelangte, weil er wegen einer fehlenden Liebesgeschichte und dem Mangel an einer großen Sopranpartie abgelehnt worden war, erweiterte Mussorgsky diese Fassung um zwei Bilder mit einigen Strichen zum "Original-Boris", indem er den so genannten "Polen-Akt" mit einer Liebesgeschichte zwischen dem falschen Dimitrij und der ehrgeizigen Polin Marina einfügte. Sieht man von der großartigen Musik des "Polen-Aktes" und der damit für Sopranistinnen interessanten Partie der Marina ab, dürfte der "Ur-Boris" im Handlungsablauf wesentlich stringenter und mehr auf die Titelfigur konzentriert sein, was vielleicht auch in Dortmund ausschlaggebend dafür gewesen ist, dass Katharina Thoma auf den "Polen-Akt" verzichtet und den "Ur-Boris" um das Revolutionsbild bei Kromy auf eine Fassung in acht Bildern ergänzt. Grigorij Otrepjew (Sergey Drobyshevskiy) schmiedet einen verwegenen Plan. Die Oper handelt von dem historisch belegten Boris Godunow, der von 1598 bis 1605 als Zar Boris I. über Russland herrschte. Dass er jedoch den rechtmäßigen Zarewitsch, Dimitrij Iwanowitsch, als Kind ermorden ließ, um an die Macht zu gelangen, ist lediglich ein Gerücht, das durch Puschkins Dramatisierung aufrecht erhalten wurde. Wahr wiederum ist, dass ein junger Mönch namens Grigorij Otrepjew den Plan schmiedet, die Identität Dimitrijs anzunehmen, und nach der Zarenkrone strebt. Dass er dabei erfolgreich ist, verdankt er zum einen dem intriganten Fürsten Schuiskij, der insgeheim selbst nach der Macht strebt und sich dazu des jetzigen Zaren entledigen möchte, zum anderen Boris' schlechtem Gewissen, das den Zaren wie einen tragischen Helden an seiner Schuld zerbrechen lässt. Als dann auch noch der alte Mönch Pimen dem Zaren vorgeführt wird und von einer angeblichen Wunderheilung an Dimitrijs Grab berichtet, bricht Boris zusammen und hat gerade noch Zeit, seinem Sohn Fjodor die Herrschaft zu übergeben, bevor er stirbt. Doch Fjodor wird von dem falschen Dimitrij getötet, der sich öffentlich als neuer Zar feiern lässt, während der Gottesnarr eine schmerzvolle Klage über das bittere Schicksal Russlands erhebt. Boris (Dimitry Ivashchenko, rechts) zeigt seinem Sohn Fjodor (Ileana Mateescu, links) sein gewaltiges Reich. Dem Regie-Team um Katharina Thoma gelingt eine großartige Umsetzung des Stückes, was sowohl die Personenregie als auch die Kostüme und das Bühnenbild betrifft. Stefan Hageneier schafft mit einem großen grauen Quader eine Guckkastenbühne, die nach hinten mit zwei verschiebbaren Wänden noch vergrößert werden kann. Wenige Requisiten reichen dabei jeweils aus, die einzelnen Orte der Handlung aufzuzeigen, und ermöglichen somit einen schnellen Wechsel von einem Bild zum nächsten. Die grauen Wände wirken dabei eher zeitlos und demonstrieren, dass die in großen kyrillischen Lettern auf die Rückwand geschriebenen Triebfedern der Motivation der Figuren des Stückes, Macht und Gewalt, das Stück zu jeder Zeit spielen lassen können. Lediglich die weißen Anzüge der Bojaren und der gewaltige Zarenmantel weisen bei den Kostümen von Irina Bartels auf eine längst vergangene Zeit hin, wohingegen Boris in seinem braunen Anzug auch einen Politiker der Gegenwart darstellen könnte. Das Volk (Chor und Extrachor mit Warlaam (Wen Wei Zhang) auf der linken Seite) will die beiden Jesuiten (Sangmin Lee und Svilen Lazarov) lynchen. Katharina Thoma inszeniert die Ermordung des Zarewitsch, indem sie einen Jungen des Knabenchors mit der Zarenkrone zu Beginn die Bühne betreten und ihn langsam von Soldaten umzingeln lässt, während Boris auf der rechten Seite der Bühne das Geschehen beobachtet und nach Durchführung des Auftrags die Bühne verlässt. Im Folgenden spielt Thoma gern mit den Dimensionen, wenn bei Boris' Krönung zum Zaren hinter den verschiebbaren Wänden die Füße einer riesigen Statue sichtbar werden. Der erkennbare Saum des Mantels lässt vermuten, dass es sich um ein Standbild des Zaren handelt. Da man aber nur die Füße sehen kann, wird zum einen klar, dass die Zeiten der Herrschaft vielleicht so kurz sind, dass die Statue nicht das Gesicht eines einzelnen Herrschers annehmen kann, zum anderen, dass die Aufgabe für den jeweiligen Potentaten zu groß ist. Im dritten Teil dreht Thoma die Dimensionen um, wenn sie Fjodor das russische Reich in Pappgebäuden auf einem riesigen Tisch aufbauen lässt, um somit Boris' Macht zu demonstrieren. Doch dieser Tisch wird im nächsten Bild umgekippt. Die Gebäude liegen wie das Land am Boden und werden vom Volk geplündert. Der Gottesnarr (Philippe Clark Hall, mit dem Chor und Extrachor) beklagt das grausame Schicksal Russlands. Auch musikalisch gelingt der Oper Dortmund ein großartiger Abend. Jac van Steen findet mit den Dortmunder Philharmonikern einen packenden Zugang zu der teils etwas sperrigen Musik, die die innere Zerrissenheit der Figuren gut vor Augen führt. Der Opern- und Extrachor unter der Leitung von Granville Walker präsentieren sich spielfreudig und homogen, hätten im Gesamtklang aber noch ein wenig fulminanter und bedrohlicher klingen können, um die Gefahr aufzuzeigen, die von der Masse des Volkes ausgeht. Ileana Mateescu ist als Fjodor leider stimmlich indisponiert, so dass Hanna Larissa Naujoks von der Staatsoper Hannover die Partie von der Seite einsingt, während Mateescu die Darstellung übernimmt. Vom weiteren Ensemble gefallen vor allem Hannes Brock als durchtriebener Fürst Schuiskij, Tamara Weimerich mit lieblichem Sopran als verträumte Xenia, Katharina Peetz als zupackende Schankwirtin, Sergey Drobyshevskiy als falscher Dimitrij mit kräftigem Tenor, Christian Sist mit dunklem Bass als Pimen und Wen Wei Zhang mit fulminantem Bass als Warlaam. Philippe Clark Hall bewegt als Gottesnarr mit eindringlichem Spiel und hellem Tenor. Die Krone des Abends gebührt Dimitry Ivashchenko, der die Titelpartie stimmlich mit zahlreichen Schattierungen ausschmückt und in seiner Darstellung als von Gewissensbissen gequälter und letztendlich durch seine Schuld zerstörter Zar ein bewegendes Rollenportrait abliefert. So gibt es am Ende lang anhaltenden und verdienten Applaus für ein hervorragendes Ensemble, ein auf hohem Niveau musizierendes Orchester und eine packende Inszenierung, die - der Akklamation nach zu urteilen - das Publikum im sehr gut besuchten Opernhaus in jeder Hinsicht überzeugt hat. FAZIT Der Oper Dortmund gelingt ein großartiger Spielzeitauftakt in einem nahezu ausverkauften Haus mit einer in jeder Hinsicht überzeugenden Produktion. Es bleibt zu hoffen, dass diese Leistung mit weiteren gut besuchten Vorstellungen belohnt wird.
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ProduktionsteamMusikalische Leitung
Regie Bühne Kostüme Lichtgestaltung Choreinstudierung Einstudierung Knabenchor Dramaturgie
Opern und Extrachor des Knabenchor der Statisterie des Dortmunder Philharmoniker
Solisten *rezensierte Aufführung Boris Godunow Fjodor, sein Sohn Xenia, seine Tochter Amme der Xenia Fürst Wassilij Schuiskij Andrej Schtschelkaloff, Geheimschreiber Pimen, Mönch und Chronist Grigorij Otrepjew, der falsche
Dimitrij Warlaam, entlaufener Mönch Missail, entlaufener Mönch Eine Schankwirtin Der Gottesnarr Mitjucha, ein Bauer Nikititsch, Vogt Leibbojar Chruschtschow Lowitzkij, Jesuit Tschernjakowsij, Jesuit Solostimme (Prolog)
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