Das Staatstheater Darmstadt zeigt Mascagnis „Cavalleria rusticana“ und Leoncavallos „Der Bajazzo“

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Katrin Gerstenberger (Santuzza) und Joel Montero (Turrido)

Die dunkle Seite der Emotionen  

Das Staatstheater Darmstadt zeigt Mascagnis „Cavalleria rusticana“ und Leoncavallos „Der Bajazzo“
Der „Verismo“ versuchte Ende des 19. Jahrhunderts, der Theatertradition der episch-historischen Erzählungen ein Ende zu bereiten und stattdessen das Leben „wie es ist“ auf die Bühne zu bringen. Statt das Publikum mit archaischen Themen und Kostümen zu unterhalten und abzulenken, wollte man es auf die realen Zustände, seien es soziale, ökonomische oder emotionale, hinweisen. Dazu gehörte neben weitgehend naturgetreuen Kostümen und Bühnenbildern auch eine Verdichtung des Geschehens im Sinne der drei aristotelischen Forderungen „Ein Ort, eine Zeit, eine Handlung“. Die logische Folge war bei der Oper unter anderm die Verkürzung auf einen Akt, der eine kontinuierliche Handlung ermöglichte. Zwei typische Vertreter der veristischen Oper sind Pietro Mascagnis Einakter „Cavalleria rusticana“ und Ruggero Leoncavalos Zweiakter „Der Bajazzo“. Wegen weitgehender Ähnlichkeit in Aufbau und Handlung werden diese beiden Opern gerne zusammen in einem Programm aufgeführt.

Joel Montero (Turrido) und Tito You (Alfio)Das Staatstheater Darmstadt hat in der Saison 1002/2002 Mascagnis „Cavalleria rusticana“ und Puccinis „Soeur Angelica“ in einen Opernabend gepackt. Damals litt die abschließende Puccini-Oper mit ihren eher leise-tragischen Tönen unter dem dramatischen Eindruck der Mascagni-Oper vor der Pause. Außerdem waren die Parallelitäten der beiden Opern begrenzt. Daher entschloss man sich bei diesem Opernabend für die klassische Kombination zweier Opern, bei denen es in erster Linie um Liebe, Ehebruch und Rache geht. Die hier gewählte Kombination weist außerdem den Vorteil auf, dass die prallere und komplexere Oper am Schluss steht.

Tito You (Tonio), Susanne Serfling (Nedda)Regisseur Michiel hat beide Opern im weitgehend identischen Bühnenbild inszeniert. Dazu hat er – er agiert hier auch als Bühnenbildner – die Tiefe der Bühne durch eine bühnenhohe Leinwand auf wenige Meter verringert, womit er die Enge des gesellschaftlichen Raumes verdeutlicht, in dem die Handlung sich abspielt. Auf dieser „Restbühne“ bewegt sich ein breiter Streifen des Bühenbodens wie ein Laufband je nach Bedarf von rechts nach links oder umgekehrt. Auf diese Weise kann Dijkema die Prozession der Landbevölkerung zur Kirche über einen längeren Zeitpunkt zeigen, ohne dass der Chor deswegen auf der Stelle treten oder im Kreise laufen muss. Auf diesem Laufband wandert zu Beginn auch die Kirchenattrape von links nach rechts über die Bühne, während Joel Montero auf em Dach sitzend die „Siziliana“, das Liebeslied an Lola, singt. Auch die Requisiten rücken auf diesem Laufband von der Seite auf die Bühne: einmal eine so naturgetreu nachgebildete Kirche, dass man die Steine haptisch erfühlen zu können glaubt, dann der Kirchturm mit einer Glocke, die nach tonnenschwerem Gewicht aussieht. Auch das Gasthaus von Turiddos Mutter, „Casa di Mamma“, ist geradezu fotorealistisch einem echten Gasthaus in einem sizilianischen Dorf der vorletzten Jahrhundertwende nachempfunden. Dijkema nimmt den Verismo sichtbar ernst.

Die Handlungsführung erfolgt linear und mit einem unwiderstehlichen Zug zum katastrophalen Ende hin. Der Zuschauer weiß von Anbeginn, dass die Angelegenheit tödlich enden wird, da keiner der Protagonisten auch nur einen Deut von seiner vermeintlich richtigen Position abweichen kann oder will. Turiddo kann zwar nicht von seiner alten Liebe Lola lassen, die ihn trotz ihrer Heirat mit dem Händler Alfio keiner anderen Frau gönnt. Er verlässt seine Verlobte Santuzza und stößt sie damit in den Abgrund der Ehrlosigkeit. Dijkema veranschaulicht sehr bildhaft die heuchlerische Doppelmoral der (Dorf-)Gesellschaft, die in der Kirche für Gottes- und Nächstenliebe betet und vor der Kirche Santuzza beschimpft und bespuckt. Auch Turiddo sucht geradezu das Duell mit Alfio, dem die verlassene Santuzza aus Rache die Augen geöffnet hat, und verabschiedet sich von seiner Mutter mit Todesahnungen.
Susanne Serfling (Nedda), Tito You (Tonio), Peter Koppelmann (Beppo)Dieser Einakter zeigt deutlich – wie auch alle Kriminalstatistiken -, dass Emotionen wie Eifersucht und Rache im Alltag und bei den immer wieder auftretenden menschlichen Katastrophen eine wesentlich größere Rolle spielen als ökonomische oder politische Verhältnisse. Vor allem, wenn die Menschen in ein enges Korsett von Traditionen und Wertevorstellungen eingezwängt sind, erfolgen die Reaktionen nicht nach rationalen Maßstäben sondern aus dem Druck der Triebe, Sehnsüchte und Kränkungen. Dijkema veranschaulicht dies am Beispiel der „Cavalleria rusticana“ durch eine präzise Regieführung, die vor allem die drei Personen und ihre archetypischen Eigenschaften in den Vordergrund stellt. Santuzza vertritt dabei die Kräfte, die den Erhalt des Erreichten sichern wollen und auf eine vernünftige und verantwortliche Lösung von Problemen dringen, sich aber nicht durchsetzen können gegen eingefahrene Verhaltensmuster besonders der Männer. Doch nicht nur diese sind an der Katastrophe schuld. Die Leichtfertigkeit einer Lola, die aus einer unstillbaren Egozentrik bewusst am emotionalen Pulverfass zündelt, und das fatalistische Wegschauen von Lucia, Turiddos Mutter, tragen ebenfalls ihren Teil dazu bei.

Die Musik von Pietro Mascagni intoniert ebenfalls den „Verismo“, indem sie auf schöne und zugkräftige Motive à la Verdi zugunsten einer die wahre Seelenverfassung widerspiegelnden Harmonik und Melodieführung verzichtet. Auch passt sich diese Musik wesentlich mehr den Details der Handlung an, statt sich in Rezitativen und Arien mit ihren Refrainmustern zu erschöpfen. Dass der Italiener in Mascagni dennoch den Sinn für den „Belcanto“ nicht verleugnen kann, versteht sich dabei fast von selbst. Michael  Cook arbeitet die teilweise schroffen und widersprüchlichen Aspekte kompromisslos heraus und lässt damit das seelische Drama auf der Bühne auch im Orchestergraben Wirklichkeit werden. Auf der Bühne tragen Katrin Gerstenberger als Santuzza, Joel Montero als Turiddo und Tito You als Alfio das ihre zum Gelingen der Inszenierung bei. Katrin Gerstenberger besticht durch ihren voluminösen, in allen Lagen klaren und geschmeidigen Sopran und bringt auch darstellerisch die Verzweiflung der verlassenen Frau zum Ausdruck. Joel Montero behauptet sich neben ihr mit einer ebenso kraftvollen Stimme und einer in sich stimmigen Darstellung des zwischen zwei Frauen gefangenen Mannes. Der zum Staatstheater zurückgekehrte Bariton Tito You schließt das Dreieck mit einer stimmlich und darstellerisch präsenten Interpretation des Alfio.

Nach der Pause setzt „Der Bajazzo“ nahtlos auf der Grundlage des ersten Teils auf. Die Requisiten bleiben erhalten und sind lediglich zeitlich maßvoll aktualisiert worden. Aus „Casa die Mamma“ wurde eine „Bar Sport“, und während Alfio noch auf einem Eselskarren in das Dorf kam, nutzt die Schauspieltruppe um Canio herum einen bunten Lieferwagen. Zu Beginn jedoch trägt Tonio, der missgestaltete Gehilfe der Truppe, hoch oben vor dem Vorhang schwebend und von einem Scheinwerfer beleuchtet, den „Prolog“ eines Schauspieldirektors vor. Dieser Prolog verfolgt den dramaturgischen Zweck, noch einmal zu verdeutlichen, dass es hier nicht um irgendeine erdachte Geschichte geht, die das Publikum unterhalten soll, sondern dass die Truppe aus dem „wahren Leben“ erzählen will. Das Stück will ein Stück Wirklichkeit widerspiegeln, wie sie sich tagtäglich zum Beispiel in sizilianischen Dörfern abspielt. Dass sich diese Ankündigung innerhalb der Fiktion auf wesentlich dramatischere Art erfüllt als der Prolog innerhalb des Stücks es meint, gehört zur selbstreferentiellen Ironie des Stücks. Leoncavallos Oper spielt hier mit den verschiedenen Ebenen der Fiktion; selbst eine Erfindung des Opernkomponisten für die Bühne, nimmt sie in Anspruch, Realität abzubilden. Es ist ein wenig wie in Stanislav Lems Geschichte „Simulacron“, in der eine im Computer perfekt simulierte Welt sich für die Realität hält.

So spiegelt denn die alberne Geschichte, die die vier Wanderschauspieler Canio (Chef und Bajazzo), dessen Frau Nedda (Colombina), Tonio (Gehilfe Taddeo) und Peppe (Arlecchino) in den Dörfern darbieten, die tödliche Realität innerhalb dieser kleinen Gemeinschaft wider. In dem Stück hat die Frau des Bajazzo einen Verehrer, der sich beim plötzlichen Auftauchen des Hausherrn unter ihrem Reifrock versteckt. Der eifersüchtige Bajazzo soll in dem Stück der Spottlust des stets schadenfrohen Publikums ausgesetzt werden, doch dazu kommt es nicht. Nedda hat sich in den jungen Dorfbewohner Silvio verliebt und will mit ihm fliehen. Tonio, der selbst hinter Nedda her ist, überrascht die beiden und rennt aus Rache sofort zu Canio. Da jedoch die abendliche Vorstellung, die allen Lohn und Brot sichert, unmittelbar bevorsteht, verzichtet Canio auf die sofortige Rache und wirft sich in sein Bajazzo-Kostüm. Sein Auftritt gerät jedoch ganz anders als geplant, denn er wechselt vom ersten Schritt an die Ebene und beschimpft nicht als Bajazzo die untreue Combina, sondern als Canio seine reale Frau Nedda. Diese versucht verzweifelt, den Charakter des Stücks aufrecht zu erhalten, und betont sogar mehrfach seinen Namen „Bajazzo“, doch Canio ist nicht mehr aufzuhalten. Als er sie würgt, um den Namen ihres Liebhabers zu erfahren, springt Silvio auf, um sie zu retten. Er stirbt an Canios Messerstich und Nedda an dessen würgenden Händen. Das Publikum erkennt lange nicht die wahre Situation und bestaunt die Echtheit der Eifersuchtsszene, ehe die ersten merken, dass echtes Blut fließt.

Den Schluss macht Tonio, nun wieder in der Rolle des Ansagers, der den in diesem Augenblick doppelten Vorhang mit den Worten zuzieht: „La comedia e finita“ – „Die Komödie ist beendet“. Diesen Satz muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, denn er ist in seiner Mehrdeutigkeit kaum zu überbieten. Einmal natürlich beendet Tonio damit das tödliche Spektakel auf dem Dorfplatz, als wolle er entsetzt die Leichen den Blicken des Publikums entziehen. Darüber hinaus setzt er jedoch auch den Schlusspunkt hinter die Oper und verlässt damit kurzfristig seine Fiktionsebene. Die Ebenen verschwimmen und vermischen sich, und automatisch schleicht sich die Vorstellung ein – wie bei dem erwähnten „Simulacron“ -, das sich theoretisch ähnliche Ereignisse auch zwischen den realen Darstellern dieser Oper abspielen könnten. Kurz: man könnte diese Fiktionskette beliebig lang fortsetzen und damit immer neue virtuelle Realitäten schaffen.
Der Wechsel der Ebenen, das heißt der Einbruch des Realen in die Welt der Fiktion, wird auch dadurch angedeutet, dass der erwähnte letzte Satz von Tonio gesprochen und nicht gesungen wird. Das bedeutet: „Schluss mit lustig. Das ist hier traurige Realität“. Ähnlilches gilt auch für den letzten Satz in der „Cavalleria rusticana“, wenn plötzlich jemand aufgeregt ruft – nicht singt! -, dass Alfiio seinen Widersacher Turiddo erstochen habe. Auch hier kehrt blitzartig für einen Moment die Realität ein.

Der „Bajazzo“ bringt die gleiche Thematik wie die „Cavalleria“ auf die Bühne, jedoch mit weit höherer Komplexität. Darüber hinaus bringt diese Oper noch einen weiteren Aspekt ins Spiel, den der vordergründigen Groteske. Die Albernheiten der Wandertruppe  legen sich wie eine dünne Tünche um das emotionale Drama und entlarven die Komik als eine Art existenzieller Verzweiflung. Da kann es dann vorkommen, dass beim Hochziehen der neuen Glocke sich der Pfarrer im Seil verheddert und am Bein mit in die Höhe gezogen wird. Das kann man durchaus als subtile Satire über den Klerus verstehen, wie auch die Szene in der „Cavalleria“, als der junge Ministrant zum Pfarrer kommt und die beiden für wenige Momente ein ungleiches Bild abgeben, das Assoziationen weckt. Komik wird hier zum doppelbödigen Medium; das bekannte Bild vom weinenden Clown hat sich nicht umsonst zu einem Standard-Topos entwickelt. Anders gedeutet: die Emotionen der Menschen und ihre oft fürcherlichen Folgen sind nur als Farce zu verstehen und zu ertragen.

Auch die Musik Leoncavallos verzichtet auf beschönigende Harmonien und Melodie und betont die grotesken Züge des Geschehens. Wie schon bei der „Cavalleria“ überwiegen Reizklänge und abrupte Brüche, die das Bühnengeschehen hautnah begleiten und musikalisch umdeuten. Und auch hier überzeugen die Darsteller durch höchst konzentrierte und dichte Auftritte. Der Armenier Gor Arsenyan, neu im Darmstädter Ensemble, interpretiert die Rolle des Canio mit viel Temperament, düsterer Wut und einer hellen Tenorstimme. Susanne Serfling gibt die Nedda als junge Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht, sich in der reinen Männerwelt der Wandertruppe ihrer Haut wehren muss und von einem bürgerlichen Leben an der Seite eines geliebten Mannes träumt. Sie glänzt einerseits in den lyrischen Szenen mit Silvio, andererseits in der doppelbödigen Theaterszene auf dem Tisch des Gasthauses, wo sie als Nedda verzweifelt versucht, die Realität aus dem Stück herauszuhalten. Tito You gibt einen explosiven und intriganten Tonio, der in dieser Oper die Rolle des Verräters spielt; Peter Koppelmann spielt den Harlekin Peppe und David Pichlmaier den jungen Silvio. 

Michiel Dijkema ist mit dieser Kombination eine Inszenierung gelungen, die vor allem durch ihre Dichte und die Konsistenz von Bühnenbild, Kostümen und Handlungssträngen beeindruckt. Claudis Damm hat dazu die passenden und vor allem im „Bajazzo“ farbenprächtigen Kostüme geschaffen. Obwohl die Handlung in beiden Opern im Grunde genommen schlicht („das Ewig-Gleiche“), fast trivial ist, entfaltet sie auf der Bühne eine Dramatik der Unentrinnbarkeit und entfesselter menschlicher Emotionen. Dabei wirken die beiden fast deckungsgleichen Geschichten nie anachronistisch oder gar bieder-hausbacken. Die Aktualisierung der Requisiten ist nur ein Zeichen für die in der Handlung bewiesene Erkenntnis, dass menschliche Emotionen zu allen Zeiten die gesellschaftliche Ereignisse maßgeblich beeinflusst haben, bis hin zur Katastrophe.

In beiden Kurzopern spielte der Chor eine zentrale Rolle, den Markus Baisch hervorragend eingestellt hat. Den Mitgliedern des Chors wurde nicht nur gesanglich, sondern auch szenisch und darstellerisch einiges abverlangt, was sie souverän meisterten. Hervorzuheben sind auch die vielen Kinder, die sich problemlos in das Spiel des Chors integrierten.

Der Beifall des Premierenpublikums fiel denn auch begeistert aus und war von vielen „Bravos“ für einzelne Darsteller und das Ochester  durchsetzt.

Frank Raudszus 

Die nächsten Vorstellungen finden am 11., 15. und 29. Dezember statt
 

 

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