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Wissend aus Mitleid und schuldig Von Christoph Wurzel / Fotos von Hans Jörg Michel Welch fantastisches Werk hat man hier in Mannheim hervorgeholt: Mieczylaw Weinbergs Der Idiot ist eine grandiose Oper 27 Jahre nach ihrer Entstehung und 17 Jahre nach dem Tod des Komponisten wurde sie nun in der vollständigen Fassung am Nationaltheater uraufgeführt. Eine Kammerversion, die 1991 in Moskau realisiert worden war, wird der Größe des Werks kaum gerecht geworden sein, denn Weinberg bietet in seinem letzten Werk für die Bühne alle Möglichkeiten des musikdramatischen Ausdrucks auf und hat damit ein Werk geschaffen, das – jetzt durch die Aufführung in Mannheim auch mit Nachdruck beglaubigt – den Werken seines Freundes Dimitri Schostakowitsch gleichrangig zur Seite steht. Die künstlerische Bedeutung des aus Polen gebürtigen russischen Komponisten Mieczylaw Weinberg (1919 – 1996) ist hierzulande spätestens seit der westeuropäischen Erstaufführung seiner Passagierin vor drei Jahren in Bregenz (siehe auch unsere Rezension) (und am 18.5. in Karlsruhe in deutscher Erstaufführung) zwar erkannt, dennoch gibt es im Schaffen dieses Komponisten gegenwärtig noch viel Neuland zu entdecken. Immerhin umfasst das in allen Gattungen umfangreiche Oeuvre Weinbergs auch insgesamt sieben Opern. Dass Mannheim sich nun an Weinbergs Dostojewski-Oper gewagt hat, ist eine Großtat dieses Hauses, zumal es sich hierbei um ein enorm aufwändiges Werk handelt. Neben dem großen Orchesterapparat sind ein Dutzend Gesangsrollen zu besetzen und die Oper hat mit einer Spieldauer von über vier Stunden Riesenausmaße. Diese Umstände allein schon nötigen höchsten Respekt ab. Der Anfang: schicksalhafte Zufallsbegegnung im Zug. Später kämpfen Myschkin (Dimitry Golovnin) und Rogoschin (Steve Scheschareg) um dieselbe Frau (als Vision hier im Hintergrund: Ludmila Slepneva als Nastassja mit Bryan Boyce als Totzkij). Es ist auch die Inszenierung selbst, die diese Produktion zum Ereignis macht. Regula Gerber hat das Werk nicht allein schlüssig erzählt, sondern auch souverän dessen Vielschichtigkeit herausgestellt. Aber worum geht es überhaupt? Aus Dostojewskis 900-Seiten-Epos hat Weinbergs ständiger Librettist Alexander Medwedjew den zentralen Handlungsstrang herausziseliert und auf das verhängnisvolle Scheitern der Titelfigur bei der Partnerwahl konzentriert. Fürst Myschkin ist als Epileptiker einerseits mit der Gabe einer klaren Erkenntnis der Wirklichkeit gesegnet, anderseits aber unfähig zu entschlossenem Handeln, da er Mitleid im Übermaß besitzt. „Mitleid ist das einzige Gesetz der Menschheit“, heißt es in der Oper, zugleich verstrickt sich Myschkin damit in Schuld. Aus Menschenliebe will er die Kurtisane Nastassja heiraten, weil sie unter den Männern für Geld verschachert werden soll. Aus Eifersucht bringt einer ihrer Verehrer, der aufbrausende Rogoschin, sie um. Die junge Aglaja Jepantschina dagegen liebt Myschkin wegen ihrer Schönheit, kann sich aber für sie nicht entscheiden. So ist der „Idiot“ mit der „heiligen Krankheit“ ein Gottesnarr wider Willen - Moralist und Verderber zugleich. Die Oper zeigt diesen Zwiespalt auf bedrückende Weise und stellt diesen weltfremden Erlöser in eine grausame, von Materialismus zerfressene Gesellschaft hinein, der er durch seine Güte den Spiegel vorhält, an der er aber zugleich auch zugrunde geht. Denn am Schluss liegt er zerstört am Boden, wie der Mörder Nastassjas auch, mit dem Myschkin ebenfalls grenzenloses Mitgefühl empfindet. Die vier Akte sind in zehn Bilder gegliedert, die in Mannheim durch den Einsatz der Drehbühne nahtlos ineinander übergehen. So schafft die Regie aus Episoden ein permanentes Wechselspiel von hoher dramatischer Spannung. Auf die wesentlichen Requisiten konzentriert entstehen Aktionsinseln, die durch eine präzise Personenführung die Handlung vorantreiben und verdichten. Die 4 ½ Stunden vergehen im Flug. An mehreren Stellen gleitet die Handlung auf eine surreale Ebene und nimmt dabei groteske Züge an, so wie in der Sicht der Hauptfigur Wahn und Wirklichkeit verschwimmen. Die Regie zeigt das durch sparsam verwendete Videoprojektionen oder verzerrende Elemente wie Tiermasken. Aus Mitleid liebt Myschkin (Dimitry Golovnin) diese Frau (Nastassja: Ludmila Slepneva) und will sie aus gesellschaftlichen Zwängen retten. Die Vielschichtigkeit und der Formenreichtum von Handlung und Szene entsprechen denen in der Musik. In diesem Spätwerk zeigt Weinberg alle kompositorische Meisterschaft, einen überwältigenden Farbenreichtum in höchst raffinierter Instrumentierung und eine breite Skala des musikalischen Ausdrucks, der von tiefer Verinnerlichung bis zur betäubenden Klangeruption reicht. Der ganzen Skala unkontrolliert überbordender Gefühle der Figuren, die sich alle auf eine Weise verloren haben, gibt Weinberg musikalische Gestalt. Das Nationaltheater Mannheim hat mit Thomas Sanderling dafür den denkbar besten Dirigenten gefunden, denn in der Familie seines nach Russland emigrierten Vaters Kurt Sanderling hatte er persönlichen Kontakt mit Weinberg wie auch dessen Förderer Schostakowitsch. Seit einigen Jahren setzt er sich auch als Brückenbauer zwischen der russischen und der westlichen Musikwelt für Weinbergs Schaffen intensiv ein. So wurde auch dieser Dirigent zum Glücksfall für diese Produktion. Die drei Schwestern Jepantschin (v.l.: Anne-Theresa Møller, Diana Matthess und Cornelia Ptassek) umgarnen Myschkin (Dimitry Golovnin) zwar, verspotten ihn zugleich aber als Schwächling. Nicht zuletzt hat das Nationaltheater eine Riege großartiger Solisten aufzubieten, die diese Uraufführung zu einem ganz großen Abend machten. Den Fürsten Myschkin zeigt Dimitry Golownin als einen Helden auf tönernen Füßen, hin- und hergeworfen zwischen den Extremen, die ihn umgeben. Der russische Tenor singt ausgesprochen schön und expressiv und verfügt über strahlenden Glanz in der Stimme. Als Nastassja ist Ludmila Slepneva das furiose Zentrum der Aufführung. Ihre Bühnenpräsenz ist unübertrefflich. Die Femme fatale und die durch Myschkins wahre Liebesbezeugung vielleicht erstmals in Inneren berührte Frau spielt sie gleichermaßen überzeugend und echt. Ihre große Stimme verströmt sie dabei prachtvoll. Anne-Theresa Møller gibt der Gegenspielerin Aglaja eindrucksvoll Gestalt und singt mit betörender Jugendfrische. Als männlicher Antagonist Rogoschin besetzt Steven Scheschareg beeindruckend ein weiteres Kraftzentrum der Oper. Sein kerniger, beweglicher Bass setzt den wirkungsvollen Kontrast zum lyrisch gefärbten Tenor des Fürsten. Als zynischen Begleiter mit surreal mefistofelischen Zügen gibt Lars Møller die Rolle des undurchsichtigen Lukjan Lebedjew. Das Ende: Verbrechen und Schuld. Nach dem Mord an Nastassja haben deren Mörder Rogoschin (Steven Scheschareg) und Myschkin, der sie retten wollte (Dimitry Golovnin), den Verstand verloren. Bis in die Nebenrollen hinein ist das Ensemble bestens profiliert, hervorstechend hier Elzbieta Ardam mit einem kraftvollen Mezzo als verständnislose Mutter der drei heranwachsenden hübschen Töchter Jepantschin. Schauerlich die Wirkung des nur zweimal die Bühne kreuzenden Messerschleifers (Robert Schwarts mit eiskaltem Tenor) als lebendes Symbol für das verhängnisvolle Ende der Handlung. Die darstellerische Kraft aller Solisten bis hin zu den stummen Rollen tragen zur atmosphärischen Dichte dieser Aufführung bei. FAZIT
Ein großes
Werk in einer konzentrierten Inszenierung, die in jedem Detail überzeugt.
Die musikalische Realisation ist kongenial. Mannheim hat eine
Großtat vollbracht. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Herrenchor des Nationaltheater
Statisterie des Nationaltheater SolistenFürst
Lew Nikolajewitsch Myschkin
Ardalion
Alexandrowitsch Iwolgin
Nina
Alexandrowna Iwolgina
Warwara
(Warja) Ardalionowitsch
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