Das Staatstheater Darmstadt präsentiert an einem Abend zwei Opernversionen von Büchners „Woyzeck“

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Gurlitt: Lasse Penttinen (Doktor), David Pichlmaier (Wozzeck), Thomas Mehnert (Hauptmann)

Das gespiegelte Leid eines Gehetzten  

Das Staatstheater Darmstadt präsentiert an einem Abend zwei Opernversionen von Büchners „Woyzeck“
Das Jubliäumsjahr des gebürtigen Südhessen Georg Büchner hat in Darmstadt bereits in Gestalt seiner drei Theaterstücke – Woyzeck, Leonce und Lena, Dantons Tod – entsprechende Würdigung gefunden. Auch in der Oper hat man sich Anfang des Jahres in „Jakob Lenz“ mit Büchner beschäftigt. In diesem Reigen fehlte nur die Vertonung seines „Woyzeck“, die Alban Berg in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts geliefert hat. Doch John Dew, Intendant und Opernregisseur des Staatstheaters, wollte mehr als nur Bergs Oper aufführen. Er fand einen ganz besonderen „Dreh“, sowohl die Bedeutung von Büchners Werk als auch die Opernfassung eindringlich darzustellen.

Gurlitt: David Pichlmaier (Wozzeck), OpernchorAlban Berg war nicht der einzige, der den „Woyzeck“ für das Musiktheater aufbereitete. Fast gleichzeitig komponierte der heute weitgehend unbekannte Manfred Gurlitt eine eigene Oper namens „Wozzek“. Gurlitt war eigentlich Dirigent und betätigte sich nebenher als Komponist. Nach 1933 verlor er seine Stellung und musste später emigrieren, was wesentlich zu seinem heutigen geringen Bekanntheitsgrad beitrug. 
Beide „Wozzeck“-Opern entstanden Anfang der zwanziger Jahre, einer Zeit, in der die soziale Lage weiter Bevölkerungskreise besonders prekär war. Publikum und Kritik nahmen beide Werke positiv bis begeistert auf, und es folgten viele weitere Aufführungen bis 1933. Von daher verwundert es, wenn John Dew dem deutschen Publikum eine Ablehnung der Oper – nach dem Krieg kannte das Publikum nur den Berg-„Wozzek“ – unterstellt und dies dem deutschen Hang zu Militär und Medizin zuschreibt. Bekanntlich werden beide Berufsgruppen in Büchners „Woyzeck“ heftig karikiert. Es dürfte wohl eher so sein, dass die moderne, über weite Strecken atonale Musik Alban Bergs das Abonnementspublikum lange Zeit schlicht überforderte.
Beide Libretti halten sich eng an Georg Büchners Originaltext. Das hat für den Zuhörer den Vorteil des Wiedererkennungseffekts und eines unmittelbaren Vergleichs. Obwohl die Sänger in beiden Inszenierungen sehr deutlich artikulieren, sind die Übertitel hilfreich, da man ohne wörtliche Kenntnis des Textes die teilweise sehr expressiv gesungenen Partien nicht oder nur teilweise versteht.
Die Reihenfolge der Aufführung spielt natürlich eine wesentliche Rolle. Beim ersten Mal lässt man sich noch von der Handlung gefangen nehmen – wenn man sie nicht oder nur grob kennt -, während beim zweiten Mal die Aufmerksamkeit mehr der Umsetzung gilt. John Dew hat sich dafür entschieden, Manfred Gurlitts Version an den Beginn zu stellen. Das leuchtet insofern ein, als es die direktere und – wenn man so will – puristische Fassung ist. Gurlitt hat Büchners Szenenskizzen, für die dieser noch keine endgültige Reihenfolge festgelegt hatte, ohne szenischen Überbau in Musik umgesetzt. Jede der achtzehn Szenen ist ein eigener musikalischer Mikrokosmos und bedient sich jeweils einer dazu passenden musikalischen Form, seien es Fugenstrukturen, karikierende Mililtärmusik oder ostinate Passagen, die für die Unausweichlichkeit der dramatischen Entwicklung stehen. Gurlitt konzentriert sich dabei weitgehend auf die innere Welt des Protagonisten. Die äußeren Verhältnisse betrachtet er eher als Auslöser einer Entwicklung, die nahezu deterministisch verläuft. Gurlitt beschreibt szenisch und musikalisch einen Menschen, der an der Welt zerbricht und dabei den Verstand verliert. Wer für diese Entwicklung die Verantwortung trägt, ist für ihn zweitrangig. Seine Musik setzt Wozzecks Innenleben mit seiner Zerrissenheit und seiner Qual konsequent um. Sie nimmt dabei höchst expressive Züge an, die von einzelnen Instrumenten oder kleinen Instrumentengruppen intoniert werden. Dadurch trägt Gurlitts Musik ausgesprochen kammermusikalische Züge. Den einzelnen Gefühlsregungen werden die jeweils passenden Instrumente zugeordnet, seien es Blech- oder Holzbläser oder sogar das Schlagzeug. Die zerrissene Musik spiegelt dabei auch die traumatischen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges wider und findet in der Soldatengestalt des Wozzeck ihr szenisches Gegenstück.

Berg: Marco Schreibweiss (Mariens Knabe), Yamina Maamar (Marie), Ralf Lukas (Wozzeck)Dirk Hofacker hat zu dieser Inszenierung ein schlichtes Bühnenbild entworfen. Eine schräg abfallendes, abweisendes Betongebilde dominiert den Raum und lässt sich durch Drehen den szenischen Anforderungen anpassen. Durch den Wechsel der Beleuchtung strahlt diese steinerne Kulisse die jeweilig gewünschte szenische Atmosphäre aus. Während anfangs, wenn Wozzeck noch hofft, zeitweise freundliche Farbtöne den Beton verschönern, herrschen am Ende kalte blaue Farbtöne vor. Die Kostüme von José-Manuel Vázquez verweisen auf die Zeit des historischen Woyzeck, ohne jedoch diesen Hinweis überzubetonen.  Alban Bergs „Wozzeck“ unterscheidet sich bereits in der ersten Szene deutlich von Gurlitts Version. Die Szene zwischen Wozzeck und dem Hauptmann wird wesentlich realistischer ausgespielt. Hier spielt das soziale Umfeld Wozzecks eine größere Rolle, und es wird sofort klar, wer letztlich für Wozzecks Unglück verantwortlich ist. Der Hauptmann ist hier nicht nur der abstrakte Archetypus der militärischen Autorität sondern ein realer und geradezu zynischer Offizier in der Maske des schulterklopfenden Ratgebers. Ähnliches gilt für die Szene mit dem Mediziner, die bei Gurlitt nicht vorkommt. Alban Berg stellt den Doktor als einen gewissenlosen Mediziner dar, der seine Forschung über sein menschliches Versuchsobjekt stellt und mit seinem scheinbar objektiven Ehrgeiz auf die unsäglichen Mediziner des Dritten Reiches verweist. Auch diese Szene spielt Alban Bergs Oper sorgfältig aus und legt damit gesellschaftliche Strukturen offen.
Das Bühnenbild verweist ebenfalls stärker auf das soziale Umfeld als bei Gurlitts Oper. So erscheint bei der Szene mit dem Doktor ein bühnenfüllendes Regal mit allerlei medizinischen Requisiten, und die Hebetechnik des Bodens wird effektvoll eingesetzt, vor allem in der Sterbeszene Wozzecks. Am Schluss erscheint ein überdimensioniertes Gerüst, das sich im Bühnenraum dreht und allerlei Formen annimmt bis zu einer zweiten, leeren Tribüne und eine Atmosphäre leerer, seelenloser (Gesellschafts)Mechanik verbreitet. Darüber hinaus greift die Regie wieder das Schlussbild aus Gurlitts Oper mit dem kalten Blaulicht auf, womit sich der Kreis schließt. Ein weiterer Unterschied besteht in der szenischen Behandlung des Kindes von Wozzeck und Marie. Während es bei Gurlitt nur ein Bündel ohne eigene Individualität ist und lediglich die textliche Erwähnung in eine minimale Bühnenpräsenz umsetzt, stellt die Inszenierung von Bergs „Wozzeck“ das Kind als etwa acht- bis zehnjärhigen Knaben dar, der das ganze Drama hautnah miterlebt und alle Symptome eines unter schweren Verlustängsten leidenden Kindes zeigt. Auch hier wird die Situation plötzlich hautnah realistisch, und der Zuschauer leidet mit dem Kind. Es gibt bei Alban Bergs „Wozzeck“ – oder zumindest in dieser Inszenierung – nicht nur einen Leidenden – Wozzeck – sondern derer mehrere. Auch Marie wird bei ihm mehr zum Individuum als bei Gurlitt. Dort ist sie ein verschrecktes Mädchen des frühen 19. Jahrhunderts, das alles mit sich geschehen lässt, hier ist sie eine junge Frau, die beginnt, sich gegen ihre soziale Lage zu wehren, wenn auch mit tödlichem Ausgang. Das heißt nicht, dass Marie in Bergs Oper zu einer Rebellin oder gar Feministin wird, aber allein die szenische Gestaltung auch ihrer Situation verleiht ihr mehr Individualität und eigenes Gewicht. Zugespitzt ließe sich formulieren, dass Marie bei Gurlitt ein Kollateralschaden im großen Unglück des Wozzeck ist, bei Berg jedoch ein Opfer ebenso wie er.

Berg: Ralf Lukas (Wozzeck), Thomas Mehnert (Doktor)In beiden Opern spielt auch der Chor eine wesentlliche Rolle. Bei Gurlitt spricht er bisweilen geheimnisvoll leise aus dem Off und intoniert damit Wozzecks „Stimmen“, tritt jedoch auch als tanzende und singende Dorfgemeinschaft auf. Bei Bergs „Wozzeck“ tritt er etwas stärker in den Vordergrund, vor allem in der Szene der Soldaten, die sich an einem langen Tisch mit Gesicht zum Publikum nebeneinander aufreihen. Die Analogie zum „Abendmahl“ ist dabei unübersehbar, wird aber – glücklicherweise – nicht bis in die einzelnen Figuren durchgespielt. Der vermehrte Einsatz des Chores verstärkt auch die Wirkung des sozialen Umfelds auf Wozzeck und seine Befindlichkeit. Diese Inszenierung bringt deutlich zum Ausdruck, dass auch der Letzte und Verlorenste ein Teil der Gemeinschaft und als deren Produkt sowohl Opfer als auch Täter ist.
Alban Bergs Musik ist wesentlich durchkomponierter als Gurlitts. Berg schafft einen musikalischen Überbau höchster Symmetrie. Aus fünfzehn Szenen baut er drei Akte aus jeweils fünf Szenen. Dier ersten fünf bauen das dramatische Gerüst auf, wobei die letzte – der Tambourmajor verführt Marie – bereits auf die Katastrophe verweist. Der zweite, von Berg als „Symphonie in fünf Sätzen“ konzipiert, bringt den dramatischen Umschwung, und der letzte, „Sechs Inventionen“ übertitelt, die Katastrophe. Dabei widmet Alban Berg jeder Szene ein eigenes Musikformat. Im ersten Akt sind das u.a. die Suite, die Rhapsodie und der Militärmarsch, im zweiten der klassische Sonatensatz, die Fantasie und Fuge, das Largo, das Scherzo und das abschließende Rondo, und im letzten schließlich sechs Inventionen über ein Thema, einen Ton, einen Rythmus und andere musikalische Elemente. So wie Wozzecks Geschichte als Parabel auf das menschliche Leid zu verstehen ist, baut die Musik darüber den Kanon der Musikgeschichte auf. Die Musik der Jahrhunderte als Klage über die „condition humaine“. 
Bei aller traditionellen Bezeichnung der einzelnen Musikformate finden sich diese nicht in ihrer ursprünglichen Form in Bergs Musik wieder. Seine Musik nimmt die Formate nur auf und verwandelt sie unter dem Aspekt der Atonalität. Zwar leuchten immer wieder kurze tonale Figuren oder Motive mit teilweise lyrischem Einschlag auf, doch diese Ansätze einer traditionellen Musik werden sofort durch atonale Strukturen wieder zerstört, als wolle Berg dem Publikum sagen: „die alten Zeiten sind mit der alten Musik vergangen; das Hier und Jetzt ist aus den Fugen geraten“. Auch er intoniert die seelischen Verletzungen und Ängste mit einer Musik der Extreme, wobei er die seelischen Qualen der Protagonisten vor allem durch dissonante Akkorde äußerster Schärfe und zerrissene Melodiebögen wiedergibt, die zeitweise an die Grenze des Erträglichen gehen. Doch dahinter steckt bewusstes Kalkül, denn die Situation Wozzecks übersteigt diese Grenzen des Erträglichen mehr als deutlich.

Die Darsteller hatten an diesem Abend Schwerstarbeit zu verrichten. In Gurlitts Oper beherrschte David Pichlmaier als Wozzeck die Bühne durch seine stimmliche Präsenz, aber auch durch sein eindringliches Spiel. Sein Wozzeck ist ein in die Enge getriebenes Wesen, das den Verstand verliert und sich schließlich nicht mehr anders zu helfen weiß als durch eine Affekthandlung. Man erlebt diese Entwicklung von Szene zu Szene hautnah mit und ist am Ende fast erschöpft von der Wucht der Emotionen. Neben Pichlmaier überzeugen Anja Vincken als Marie – hilfloser Spielball der Männer -, Oleksandr Prytolyuk als schneidig-dümmlicher Tambourmajour, Thomas Mehnert als eitler Hauptmann und Lasse Penttinen als Doktor. Daneben agieren Minseok Kim als Andres und Gundula Schulte als Margaret. Juri Lavrentiev singt den Juden, Malte Godglück und Werner Volker Meyer den Ersten und Zweiten Bürger.

In Alban Bergs „Wozzek“ brilliert vor allem Yamina Maamar als Marie, ein deutliches Zeichen der Aufwertung dieser Figur. Sowohl stimmlich als auch darstellerisch setzt sie durch ihre Präsenz und feine Ausgestaltung ihrer Rolle die Maßstäbe. Neben ihr überzeugt Ralf Lukas als Wozzeck, wenn auch hier weniger die existenzielle Pein als die normale Eifersucht und Verlustangst in den Vordergrund treten. Peter Koppelmann als Hauptmann und Thomas Mehnert als Doktor verleihen diesen beiden Figuren deutlich mehr Kontur, als das in Gurlitts Oper möglich war, während Joel Monteros Tambourmajor etwas zu bieder daherkommt. Minseok Kim spielt wieder den tumben Andres, Anja Bildstein die Margret und Lawrence Jordan den Narren. Marco Schreibweiss füllte die stumme Rolle des Kind von Marie so gut aus, dass er am Schluss Sonderapplaus erhielt.
Auch das Orchester war bis aufs Äußerste gefordert, mussten doch die schwierigsten Klanggebilde mit teilweise schneidender Schärfe erzeugt werden. Einzelne Instrumente mussten auf den Sekundenbruchteil genau auf der Höhe sein und mal gellende, mal schrille, mal tief leidende Klänge von sich geben. Für Generalmusikdirektor Marrtin Lukas Meister dürfte dieser Abend einer der schwierigsten der ganzen Saison gewwesen sein, er meisterte ihn jedoch zusammen mit dem Orchester auf hervorragende Weise.
Das Publikum war von dieser Dopperlpremiere begeistert und zollte dem gesamten Ensemble lang anhaltenden, kräftigen Beifall, der von vielen „Bravo“-Rufen durchsetzt war.
                                                                                 
Frank Raudszus

Weitere Aufführungen am 2. und 24. November sowie am 1. und 10. Dezember

Alle Fotos © Barbara Aumüller

 

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